Von Onkel Rosebud
Meine Freundin ist ein Krimi-Serien-Fan, nicht von der Sorte Handlung, in der ein „whodunit“ abgearbeitet wird; sie bevorzugt die realistische Darstellung von Polizeiarbeit und deren Auswirkungen auf die Persönlichkeiten. So kam sie auf Projekte von David Simon. Der startete seine TV-Karriere Anfang der 90er mit dem Buch zur Serie „Homicide: Life On The Street“, die er auch als Produzent begleitete. Aus dem zweiten Buch machte er „The Corner“, die thematisch über die Armut einer Familie und ihre Verstrickung in den Drogenmarkt angelegt ist. Anfang der 2000er erfand er „The Wire“ (fünf Staffeln zwischen 2002 bis 2008), mit das Beste, was es je auf dem TV-Serienmarkt gegeben hat – bis heute in einer Liga mit „Sopranos“, „Breaking Bad“, „Justified“, „Sons Of Anarchy” etc. – und „Game Of Thrones” bis Staffel 6. Muss man gesehen haben.
„Homicide”, „The Corner” und „The Wire” haben gemeinsam, dass sie in Baltimore spielen. Das verwundert nicht, weil David Simon (*1960) von 1982 bis 1995 als Polizeireporter für die Zeitung „Baltimore Sun“ gearbeitet hat. Baltimore steht für Edgar Allan Poe, Frank Zappa und Michael Phelps, ist – Funfact – Inspirationsort für die amerikanische Nationalhymne, aber eigentlich Vorzeige-Beispiel einer verfehlten Stadtplanung, ein sozialer Brennpunkt, angeblich eine der gefährlichsten Städte der Welt.
David Simon zog weiter. Nach dem Drehbuch zu dem grausamen Irak-Krieg-Gemetzel „Generation Kill“ 2008 und vor dem „Show Me A Hero“-Fremdenfeindlichkeit-Epos (2017 bis 2019) sowie „The Deuce“ mit dem genialen, doppelten James Franco, wechselte er zwischenzeitlich geographisch nach Tremé, einem Stadtviertel von New Orleans.
Die gleichnamige, bei uns völlig unter dem Radar gelaufene Serie handelt von den Bewohnern dieser Nachbarschaft. Die Handlung setzt drei Monate nach der Zerstörung der Stadt durch den Hurrikan Katrina im Jahr 2005 ein und begleitet die Menschen, die versuchen, inmitten der Verwüstung wieder Fuß zu fassen bzw. sich ein neues Leben aufzubauen. Es geht um das besondere Lebensgefühl in einer eben nicht typischen US-amerikanischen Stadt, die sowohl französische als auch afrikanischen Wurzeln in ihrer Kultur hat. Es geht um Armut, Kriminalität, Überlebenskampf, Verlust von geliebten Menschen, Wiederaufbau in Verbindung mit Korruption in den Behörden, Gutmenschen… und um Musik.
David Simon gibt Brass und Jazz, dem Mardi-Gras mit Seele aus New Orleans, viel Raum in der Serie: Straßenmusik, Konzerte, Paraden, es treten unter anderem Elvis Costello, Allen Toussaint und Dr. John auf. Louis Prima, Irma Thomas, Steve Earle, The Radiators, Professor Longhair etc. gehören zum Score. Musik ist der Leim des Lebens. Sie hält die Bewohner der kaputten Stadt mit ihren riesigen Problemen zusammen.
„Tremé“ ist keine Krimi-Serie, sondern ein mit viel Musik unterlegtes Sozialdrama. Die Serie fließt ruhig und mächtig wie der Mississippi durch die Stadt. Manchmal grell, bunt und laut, dann wieder langatmig und gewöhnlich mit dürftigen Handlungssträngen – wie der Fluss des Lebens im Allgemeinen.
David Simons Projekte sind intelligente Unterhaltung, Milieustudien par excellance, und er versteht, Wut über herrschende Zustände und die daraus resultierende Ohnmacht der Betroffenen auf empathische Weise zu transportieren.
Außerdem rehabilitiert „Tremé“ die Schauspielerin Kim Dickens, die in u.a. „Fear The Walking Dead“ nur einen Gesichtsausdruck zeigen darf.
Onkel Rosebud