Was meine Freundin gerne sieht – die Serienkolumne: Die Lüge – Über das Verdrängen einer Vergewaltigung

Von Onkel Rosebud

Im Original heißt die Miniserie auf Netflix „En helt vanlig familj”, wie auch im Englischen: „A nearly normal Family“ – also eine fast normale Familie. Denn das schöne Familienbild, das sich die Sandells aufgebaut haben, stimmt so nicht ganz. Das wird vor allem in einer Situation ganz deutlich. Die Tochter überlebt in jungen Jahren einen Vorfall von sexualisierter Gewalt – und versucht, ihren Eltern die Situation zu erklären. Ihr Vater steht auf ihrer Seite, doch überraschenderweise will ihre Mutter den Vorfall nicht zur Anzeige bringen. Sie beteuert zwar, dass sie ihrer Tochter glaubt, doch weiß sie, dass eine Anzeige zu einer sehr persönlichen Befragung und Untersuchung führen würde, die Stella womöglich noch mehr traumatisieren könnte.

Die Miniserie spielt mit verschiedenen Perspektiven. Wir sehen die Ereignisse sowohl aus Vater- als auch aus Tochter- und Mutter-Perspektive. Jede Person hat ihre eigenen Geheimnisse und einen anderen Wissensstand. Nachdem uns alle drei Perspektiven gezeigt werden, haben wir ein vollständiges Bild von dem Vorfall – und das ist bei einem Thriller einfach so befriedigend. Auch wenn natürlich absolut klar ist, dass man keiner Erzählperspektive so richtig trauen kann – denn jeder von ihnen hat seine/ihre eigenen Motive und Geheimnisse.

Wir sehen, wie unterschiedlich Menschen mit dem Thema sexuelle und sexualisierte Gewalt umgehen – aus männlicher und weiblicher Blickrichtung. Genauso wird die Frage gestellt, wie weit man gehen würde, um einen geliebten Menschen zu beschützen. Was, wenn du dir nicht sicher bist, ob er/sie wirklich die Tat begangen hat?

„Die Lüge“ ist ein Drama um eine immer weiter auseinanderbrechende Familie nach einer Literaturvorlage von Mattias Edvardsson. In sechs Folgen à 50 Minuten wird erklärt, wie die Figuren so werden konnten, wie sie sind. Gegen Ende der Serie wird der Spannungsbogen immer steiler: Nach jedem gelüfteten Geheimnis glaubt oder misstraut man beim Zuschauen einer anderen Figur. Das ist sehr intelligente Unterhaltung.

Wegen Momenten wie diesem ist „Die Lüge“ eine feministische Serie, die daran erinnert, dass sexueller Missbrauch auch in einem gleichberechtigten Land wie Schweden häufig nicht zur Anzeige gebracht, verfolgt oder verurteilt wird. „Nur fünf Prozent aller Vergewaltiger werden rechtmäßig verurteilt. Wussten Sie das?“, fragt die Tochter voller Wut und Verzweiflung in einer Szene. In der Miniserie geht es um das Schweigen über Gewalt an Frauen. Darum, was diese Stille mit Opfern macht und wie sie Leben zerstören kann. „Die Lüge“ erzählt also von den Folgen sexueller Gewalt – für eine Frau, ihre Familie und die Gesellschaft.

Gleichzeitig ist „Die Lüge“ aber auch einfach eine packend erzählte Geschichte, die süchtig macht. Eine Serie, die man in einem soziologischen Uni-Seminar auseinandernehmen könnte – und die trotzdem Binge-Watching-Potenzial hat. Denn sie verbindet spannendes Storytelling mit kritischer Gesellschaftsanalyse. Eine äußerst wirkmächtige Nachhilfestunde in Consent und Gewalt gegen Frauen.

Onkel Rosebud