Von Onkel Rosebud
Diese Ausgabe der Kolumne verdient eigentlich ihren Titel nicht. Es müsste besser Was meine Freundin nicht gerne sieht heißen.Filme oder Dokumentationen über soziale Brennpunkte, Arbeitslosigkeit, Armut, erbärmliche Wohnverhältnisse und gewalttätige Jugendbanden sind nicht ihre Tasse Tee. Wenn dann darin noch postpubertäres Jungmachotum und latent islamistisch gefärbter, manchmal in exzessive Gewalt bis hin zu Gruppenvergewaltigungen, Folter und Mord umschlagender Frauenhass offen zur Schau gestellt werden, dann wendet sie sich mit dem Hinweis ab, dass das mit ihrem Leben ja wohl so gar nichts zu tun hat und wann ich endlich ins Bett käme.
In einer Zeit, als ich noch nicht mit meiner Freundin zusammenwohnte, habe ich den Film La Haine (Frankreich 1995, Mathieu Kassovitz, auf deutsch „Hass“) gesehen. Dieses Drama beginnt mit einem Mantra, „Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut…‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“, welches ich mir seitdem in abgewandelter Form für mein Leben als Leitspruch zurechtgelegt habe.
Der Film erzählt die Geschichte von drei Jugendlichen verschiedener ethnischer Herkunft, deren Darsteller die gleichen Vornamen tragen wie die fiktiven Figuren, die sie darstellen: ein französischer Jude (Vincent, genannt Vinz, den man heute als Skinhead bezeichnen würde), Hubert (ein Afrikaner mit einem ausgeprägten Sinn für Harmonie) und Said (der immer optimistische Algerier). Die Handlung bezieht sich konkret auf den Fall des jungen Afrikaners Makome, der 1992 bei einem Polizeiverhör durch einen Kopfschuss getötet worden war, was in der Banlieue wochenlange Unruhen auslöste. Als „Banlieue“, wörtlich „Bannmeile“, bezeichnet man im französischen Sprachraum die Randzone einer Großstadt, die nach dem 1970er-Jahre einsetzenden Prozess der Deindustrialisierung zu einem Ort des sozialen Abstiegs, in dem überproportional viele Einwanderer leben, verkommen ist.
La Haine begründete damals ein Sub-Genre, das mit dem englischen Ausdruck banlieue cinema zusammengefasst werden kann. Und beinhaltet Filme, die das Leben von Immigranten vornehmlich aus Afrika und den französischen Übersee-Départements in den ihnen zugewiesenen Vorstadt-Ghettos der französischen Großstädte zum Inhalt haben. Zum Beispiel L’etat des lieux (1995, Jean-François Richet, deutsch „Der Stand der Dinge“), „La Haine“-Nachfolger Brennender Asphalt (1997, im Original „Ma 6-T va crack-er“, Jean-François Richet), Le Ciel, les Oiseaux, … et ta Mère! (1999, Djamel Bensalah), La Squale (2000, Fabrice Genestal), Banlieue 13 – Die Hölle vor Paris (2004, Pierre Morel) bis zu Die Wütenden – Les Miserables (2019, Ladj Ly) und Bac Nord – Bollwerk gegen das Verbrechen (2020, Cédric Jimenez). Ich gestehe, ich habe all‘ diese Filme sehr gern gesehen – dank meiner polytechnischen Oberschulausbildung, auf der es damals keine Englisch-Lehrerin gab, auch teilweise in der Originalfassung. Und so war es mir ein innerer Parteitag, den neuen Cinéma-du-banlieue-Film Athena (2022, Romain Gavras), der als „Unruhen in einer Banlieue als antike Tragödie“ angepriesen wurde, anzuschauen.
Athena ist der dritte Spielfilm (nach Notre jour viendra, 2010 und Die Welt gehört dir – Le monde est à toi, 2018) von Monsieur Gavras, Sohn des berühmten Regisseurs Constantin Costa-Gavras. Ersterer fußstapft nun in Zweiterm politischen Thrillern der Siebziger, weil er damals das Kinopublikum in Frankreich für staatliche Willkür sensibilisieren wollte. Romain Gavras kommt aus dem Musik-Video-Business (u.a. Simian Mobile Disco, The Last Shadow Puppets, Justice, Jay-Z, Jamie xx). Youtube sperrte 2010 seinen Videoclip zum M.I.A.-Song „Born Free“. Für das Musikvideo zu M.I.A.s Single „Bad Girl“ gewann er aber dann 2012 einen MTV Video Music Award für die beste Regie. So wundert es nicht, dass Athena auch im Stil eines Musik-Videos geschnitten ist. Die Handlung dreht sich um den Straßenkampf, der nach einem rassistischen Mord entsteht und der in pathetisch-choreografierten Actionsequenzen überzeichnet und handwerklich meisterlich umgesetzt ist. Bedrohlich, faszinierend und berührend.
Im Schlussmonolog von Hass heißt es, eine Gesellschaft, die fällt und zu ihrer Beruhigung unablässig wiederholt: „Bis hierher lief’s noch ganz gut.“ Nur, dass nicht der Fall wichtig ist – sondern die Landung.
Onkel Rosebud
Athena läuft 2022 auf Netflix.