Von Onkel Rosebud / Michael Törker
Es ist wirklich lange her, dass ich das letzte Mal Keimzeit gehört habe. Ich meine, richtig gehört, mit Titel raussuchen, Kopfhörer aufsetzen und so. Aber schon nach den ersten Takten fühlt es sich an, als hätte ich eben erst auf STOP gedrückt. Am Kassettenrekorder, versteht sich. Nicht, dass es nicht schon CDs gab, als ich zu meiner Begeisterung für diese Musik fand, aber mein erster Kontakt war eine Musikkassette, von Freunden in die Hand gedrückt und erstmal nicht wieder ausgemacht. Und meine damalige Freundin war gleichermaßen angesteckt.
Die gemeinsame Begeisterung ist wohl Teil des Geheimnisses, warum mich diese Musik so prompt und nachhaltig berührt hat. Das war im Jahr 1991. Die ersten beiden Keimzeit-Alben „Irrenhaus“ und „Kapitel 11“ waren bereits erschienen, gehörten bald zu meinen Lieblings-CDs und sind es bis heute. Irrenhaus ist mein Stichwort, denn während die musikalischen Arrangements auf diesen Tonträgern sehr klar, geradezu transparent ausfallen, sind die Texte oft kryptisch. Manchmal scheinen sie direkt dem Irrenhaus entnommen. Die Frage, ob die Irren drin oder draußen sind, liegt dabei natürlich immer in der Luft. Sei es bei der „Nachtvorstellung der Verrückten, dem Irrespätprogramm“, dem „Hofnarr in eurem Königreich“ oder dem „Zeitungsburschen aus Boston oder New York“ – die „Komödianten und Entzückten“ waren es am Ende, denen meine Sympathien gehörten.
Es ist schwierig, einen Titel von vielen auszuwählen. Aber wenn es einer sein muss, dann wähle ich „Flugzeug ohne Räder“. Die Welt der Tänzer mit den roten Schuhen, der Grapellis im Geiste, der Träumer, Komödianten und Entzückten, das wäre eine Welt gewesen, zu der ich gerne dazugehört hätte. Nur leider war ich immer sehr in der „wirklichen Welt“ verankert.
Aber ein bisschen fühlte ich mich dann doch dazugehörig, wenn ich bei den vielen Keimzeitkonzerten meine Begeisterung mit anderen teilen konnte.
Die Konzerte waren eine Welt für sich, wegen ihrer Länge und Intensität. Nicht selten spielte Keimzeit fünf Stunden. Sie hatten ein Repertoire von 80 Songs. Neben den eigenen Titeln waren darunter auch viele Cover-Songs, die sich wie selbstverständlich in den Keimzeit-Kanon einfügten. Der „Hoochie Coochie Man“ gehörte dazu ebenso wie der „Road Jack“ oder „Baltimore“. Am schönsten waren die Konzerte in den kleinen Dorfgasthöfen, deren Namen mir entfallen sind. Dort passte einfach alles zusammen. Die „Familienband“ der Leisegang-Geschwister aus Belzig in Brandenburg fühlte sich hier ebenso zu Hause wie das eingeschworene Publikum, das oft aus großem Umkreis angereist kam, so dass man auf verschiedenen Dörfern trotzdem immer dieselben Menschen sah. Auf den Dörfern fühlte sich jedes Konzert wie die „Nachtvorstellung der Verrückten“ an und meine Freundin und ich waren dabei!
Zu den Konzerten fuhren wir mit meinem gerade erstandenen Trabant-Kombi, Kaufpreis ein Kasten Bier, und wir scheuten keine Wege. Die längste Anreise hatten wir zu einem Konzert in Greiz. Leider stellten wir bei der Ankunft dort fest, dass wir uns im Datum geirrt hatten und das Konzert schon am Vortag stattgefunden hatte. Wir waren also auf einem guten Weg, Teil der Irrenhaus-Gemeinde zu werden.
Einer der sympathischsten Fans, die ich in dieser Zeit kennenlernte, war Richie. Wir saßen zufällig in Leipzig im Beyerhaus an einem Tisch. Wir fanden schnell zu einem gemeinsamen Thema: Keimzeit. Richie hatte in Freiburg bei Radio Dreyeckland eine Sendung über Keimzeit gemacht. Den Mitschnitt dieser Sendung – auf Musikkassette versteht sich – habe ich noch heute. Im Interview mit Norbert Leisegang hört man Richie von sich erzählen: „… es gibt ja so Leute, die fahren mal so 800 Kilometer zum Keimzeit-Konzert, so alle vier Monate. Was haltet ihr von solchen Leuten, sind die ein bisschen krank in der Birne?“ Richie gehörte zur Irrenhaus-Gemeinde, beständiger Gast auf vielen Konzerten. Schade, dass ich ihn aus den Augen verloren habe.
Bei einem Konzert in Riesa blieb während eines Konzertes plötzlich der Strom weg. Keine elektronisch verstärkten Instrumente, kein Licht. Keimzeit-Saxofonist Ralf Benschu hatte in diesem Konzert Verstärkung von Trompeter und Posaunist. Die drei Bläser improvisierten, bis der Strom wieder da war, zu „Flugzeug ohne Räder“. Bis heute bin ich unsicher, ob das zur Show gehörte oder nicht. Aber es war herrlich.
Wenn auf der Keimzeit-Live-CD das Intro zur 16-Minuten-Version von „Flugzeug ohne Räder“ beginnt, fühlt man förmlich, wie sich der Vorhang öffnet. Ein paar Takte nur Schlagzeug, ganz ruhig, dann setzt die Gitarre ein, dann die Bläser. Kein Paukenschlag. Es ist schließlich die Dämmerungszeit der Wunderlichen und Sonderbaren. Der Gesang, wie nebenbei erzählt, unterlegt vom Keyboard, dass sich irgendwie reingeschlichen hat. Die Nachtvorstellung kann beginnen. Das Flugzeug fliegt. Es braucht keine Räder zum Starten und es kann ohnehin nicht landen. Die Protagonisten erscheinen auf der Bühne: der tanzende Geiger auf der Balustrade, der Chef, der Terrorist, der Charmeur. Das geht so zwei bis drei Stunden. Oder wenigstens 16 Minuten.
Dann endet die Nachtvorstellung der Verrückten, das Irrespätprogramm. Der Vorhang fällt.
P.S.: Dieser Text erschien zuerst im Buch „Various Artists – Ich Liebe Musik Vol. 2“ (2020, Windlust Verlag) und wurde von Michael Törker über den Song „Flugzeug ohne Räder“ von Keimzeit geschrieben.