Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Eine Wochenend-Beziehung mit einem Lied

Von Onkel Rosebud

Letztes Wochenende beehrte mich meine Freundin mit Abstinenz. Folgerichtig thematisiert diese Kolumne weniger sie, viel mehr einen Song, mit dem ich ihrer andächtig nicht gewahr wurde, und was dieser Song in meinem Kopf angestellt hat.

Vorausgeschickt sei jedoch folgendes Zitat: „Musik wird durch ihre Hörer identifiziert. So ist die Interpretation aussagender als das Lied selbst, und oft müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein, um ein Stück überhaupt in einem Kontext einordnen zu können. Sind die Interpretationen und die daraus folgenden (Streit-) Diskussionen ja eigentlich ein fixer Bestandteil, so ist ein Lied nicht mehr als eine zeitlich abgeschlossene Sache zu beachten, sondern als Prozess, in dessen Spitze jene 5-Minuten-Audio-Aufnahme steht. Diskussionen, Meinungen und Kritiken lassen ein Lied, wenn man es so will, wachsen. Nie wird ein einziger wirklich alle Komponenten eines Stückes, die so entstehen, fassen, nie jemand allen entgehen können.“ (Kasra Seirafi im Buch „Various Artists – Ich liebe Musik“, Herausgeber Jörg Hiecke, 1999).

Mein Wochenendschlager mit dem schönen Titel für eine Beziehung: „A Massive Overdose Of Communication (Third Version)“ wird vorgetragen von der Süddeutschen Formation Readymade, so geschehen auf der zweiten Singleauskopplung „Supernatural“ ihres 1999 erschienenen Albums. Von dem Song geht etwas Magisches aus. Ein eher schleppend, leicht angezerrter Gitarrengroove mit hervorstechender Bassline umrahmt einen Text, in dem es darum geht, was einer empfindet, wenn er mit überfütterten Eindrücken nach durchzechter Nacht mit Freunden nach Hause kommt, wieder alleine ist, den Abend Revue passieren lässt und darauf wartet, dass noch irgendetwas passiert. „… And if I need some time to be alone, don’t get mad at me. I would be lonely person if I couldn’t spend time with myself.“ Was passiert, ist alles und nichts.

Dieses Lied lässt mich sanft im Alltag innehalten, schärft auf hinterlistigste Weise die Sinne, zieht die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Es gleitet mich in einen Zustand, der vergleichbar mit den Sekunden kurz vorm Eintauchen in den Schlaf ist. Wo die Realität verschwindet, Dinge plötzlich begreifbar werden, das Universum in einem Punkt zusammenschmilzt und erkennbar erscheint. Ich weiß nicht, ob der geneigte Leser diese Erfahrungen teilen kann, wie es ist, immer nur ein Lied wieder und wieder zu hören, sich dabei hineinzusteigern und immer neue Nuancen zu entdecken. Die „PROGRAM“- und „REPEAT“-Tasten an der Fernbedienung machen das heutzutage ganz einfach. Man muss nicht einmal aufstehen. Damit kann man sich in einer Stimmung katapultieren, deren Ausmaß unmittelbar beeinflussbar ist und mit Tränen oder Herzsprüngen enden kann. Je nach Stimmungslage ist mir es möglich, in dem Repeat-Selbstversuch zu einem Song einerseits mit geschlossenen Augen tänzelnd und Luftgitarre spielend durch meine bescheidene Klause zu hopsen und so meine Laune aufzupolieren. Andererseits kann ich dazu aber auch dement aus dem Fenster starren, auf grauen unsanierten Altbau, der sich hinter meinem Balkon hervortut und Novemberluft inhalierend in meine kleine existenzielle Krise abdriften, um schließlich eine bestimmte Saite der Seele anschlagend unvermittelt loszuheulen. Einfach so. Und das ist schön. Schöner ist, dass sowas noch geht… Und noch schöner ist, dass kommendes Wochenende meine Freundin wieder mein graues Novembergemüt erhellt.

Onkel Rosebud

P.S.: Dieser Text erschien erstmals am 12. Januar 2000 in ad-rem, Jahrgang 12, Nummer 1.