Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Die Leiden des jungen O.R.

Von Onkel Rosebud

Stell‘ Dir vor, ich habe einen Job, der es unbedingt notwendig macht, dass mir jeden Morgen dutzende von CDs und Vinyls in den Briefkasten gestopft werden. So erstrebenswert, wie dieser Zustand auch klingt, es sind etwa 95% Tonträger darunter, die man nicht haben will. Ich habe ja den Verdacht, dass die Plattenfirmen irgendwann den Geschmack ausrechnen können und – verschlagen wie sie sind – die Singles und Alben, die man vielleicht wirklich möchte, von ihren Bemusterungslisten streichen und mich damit zwingen, sie zu kaufen.

Auf die unerwünschten reagiere ich in der Regel so: 1.) Ich werfe einen Blick auf das Cover. Wenn ein „Parental Advisory“-Sticker drauf ist oder der Künstler Breaking Skull, Pussy-Shit oder ähnlich heißt, höre ich sie mir gar nicht erst an. Desinteressiert bin ich auch, wenn der oder die hübsch ist, Bart oder üppiges Haar trägt oder gehässig guckt, ihm/ihr Blut aus der Nase läuft oder er/sie/es Pfandflaschen-Gesichter von „Deutschland sucht den Superstar“ oder einer anderen Teen-Soap haben. Besonders alt oder besonders jung oder irgendwie unbedarft aussehen oder die Platte auf einem Label erschienen ist, das ich nicht mag (die Liste ist lang und wird regelmäßig gepflegt). Manchmal – zugegeben nicht oft – drehe ich den Tonträger um, um einen Blick auf die Songtitel, die Länge der Songs und gelegentlich den Namen des Produzenten zu werfen. Ich suche dann etwas, was mein bösartiges Vorurteil bestätigt und mich zu dem Schluss kommen lässt, dass dieses Album nichts für mich ist.

2.) Dann schaue ich in die Presseinfo. Wenn dort ein Vergleich mit irgendeinem der schätzungsweise zehntausend MusikerInnen gezogen wird, für die mir meine Zeit zu schade ist (die Liste ist lang und wird regelmäßig gepflegt), dann höre ich sie natürlich auch nicht an. Folglich schaffen es nur sehr, sehr wenige Platten bis 3.) in oder auf das Abspielgerät legen und anhören. „Anhören“ bedeutet in diesem Kontext allerdings, dass der erste Akkordwechsel im ersten Song abgewartet wird, ein Punkt, an dem ich einen Seufzer der Erleichterung ausstoße und das Ganze als talentfreie Zone abtue oder zum lebensverändernden Meisterwerk stilisiere. Es ist ein ziemlich wasserdichtes, aber – zugegeben – unfaires System. Jedoch ist es die Lizenz, Ohrenbluten zu verhindern, quasi die Grippeschutzimpfung für Neuerscheinungen.

Habe ich die Platte dann gehört, zieht 4.), das heißt tippen, auf welche Chartposition die Formation kommt oder welcher Song die nächste Single sein wird. Denn – was trotzdem zählt – die übrigen 5% lohnen den Aufwand allemal.

Onkel Rosebud

P.S.: Dieser Text erschien erstmals am 2. Juli 2003 in ad-rem, Jahrgang 15, Nummer 19.

Nachtrag 2023: Ich habe die Tonträger, die es nicht bis Phase 4 geschafft haben, nie weggeschmissen, sondern immer auf DJ-Gigs an das Publikum verteilt.