Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Danke Goth – Anja Huwe

Von Onkel Rosebud

Meine Freundin neigt zur Synästhesie. Buchstaben oder Zahlenfolgen erzeugen vor ihrem inneren Auge Farben oder Temperatur. Zum Beispiel bezeichnet sie die Ziffer 9 als warmes Grün. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass Töne für sie nicht nur klingen, sondern gleichzeitig schmecken. Neulich habe ich ihr Auszüge aus dem mich begeisternden Tonträger „Codes“ von Anja Huwe vorgespielt. Ihr Kommentar lautete sinngemäß: „Riecht nach abgestorbenem Gehölz. Schmeckt wie Esche mit Brombeeren.“ Ziemlich gute Antwort, dachte ich, weil meine Freundin bis dahin Anja Huwe nicht kannte, und dass sie mit ihr eine Sache und mit 4-5% der Weltbevölkerung gemein hat: Synästhesie. Kurze Erklärung: Normalerweise reagiert beispielsweise der Geruchssinn auf einen olfaktorischen Reiz, etwa eine duftende Blume oder frische Brötchen. Das Gehör wiederum nimmt Lärm oder klackende Hackenporsche wahr. Menschen mit Synästhesie riechen Gerüche oder hören Töne aber nicht nur, sie können sie auch „sehen“ oder „schmecken“.

Der Gothicpostpunk der Band Xmal Deutschland um Sängerin Anja Huwe traf den Nerv der 80er und schaffte das seltene Kunststück, im Ausland mehr Erfolg zu haben als zu Hause, weil sie dort mehr auf Tour waren als hier. Nach der Auflösung der Band Anfang der 90er, nach vier Alben, das letzte namens „Devils”, erschienen 1989, wurde die Sängerin bildende Künstlerin. Nach den Regeln des Musikgeschäfts müsste sie längst vergessen sein. Ist sie aber nicht. Im Gegenteil. Der Underground-Klassiker „Incubus Succubus“ ist so überwältigend groß, dass er immer noch ihre jahrzehntelange Künstlerinnenkarriere überstrahlt. Nach mehr als dreißig Jahren musikalischen Schweigens erschien im März 2024 neben dem Re-Release der Compilation „Early Singles 1981-1982“ ihr Solo-Album „Codes“ (beide Sacred Bones Records).

„Codes“ ist eine musikalische Auseinandersetzung, was mit einem passiert, der im Wald lebt. Anja Huwe ließ sich dabei von dem Tagebuch des jüdischen Partisanen Moshe Shnitzki inspirieren, der in den 1920er Jahren in den belarussischen Wäldern lebte. Sie ist dabei auch auf Zack mit den aktuellen Möglichkeiten der digitalen Musikproduktion: Zwischen harten elektronischen Beats und eigenwilligen Gitarrenspiel klingt das Album recht zeitgeistig.

Leben im Wald? Mit Esche, Brombeere, ohne Hackenporsche. Ist ein faszinierender Gedanke. Gibt der Wald einen Code vor, und wenn man dem nicht folgt, ist man verloren? Schönes Konzept für ein Album. Aber die naheliegendste Assoziation eines Stadtbewohners zum Leben im Wald ist immer noch der Deichkind-Song „In der Natur“. „Ich hänge hier im Wald rum ohne Hafermilch und Heizung. Hier versau‘ ich mir den Look und die Hagebutte juckt.“

Meine Freundin habe ich mal mit der folgenden Idee für ein Drehbuchs konfrontiert: Ein Mann wird zu Beginn des Corona-Lockdowns von seiner Frau verlassen und zieht daraufhin in ein Waldstück bei Niesky – so eins mit Jägerstand und Feld drum rum. Er ernährt sich autark von Wurzeln und Beeren und hat aus der Zivilisation nur einen Solarzellenbetriebenen Akku dabei, mit dem er sein i-pod aufladen kann. Eines Tages lernt er ein sprechendes Eichhörnchen kennen, mit dem er anfängt, über das Leben zu philosophieren. „Ach, du blaues Känguru!“ entfuhr es meiner Freundin.

Onkel Rosebud