Veit Heinichen – Borderless – Piper 2019

Von Matthias Bosenick (18.07.2019)

Da nutzt Veit Heinichen die Form des Thrillers, um seine sehr wertvolle linksbasierte Rundumschlag-Kritik an Europa zu transportieren: Hier geht es um Flüchtlinge, Korruption und undemokratische politische Verstrickungen, vom italienischen Adrianest Grado ausgehend quer durch Europa. Fundiert recherchiert und bisweilen recht spannend aufgearbeitet, aber etwas konstruiert und behäbig zusammengefügt.

Viele Charakterzeichnungen sind so absurd, dass sie real sein könnten, das Leben belegt solches schließlich gern: Die Kommissarin heißt XYZ, Xenia Ylenia Zannier, und trägt ab dem Zeitpunkt ihrer unwahrscheinlichen Geburt ein enormes Schicksal mit sich herum. Zudem trainierte sie sich zu einer Art Kampfsport- und Schusswaffen-Superheldin und hat Rachegelüste, Wutausbrüche und Bindungsängste sowie andere Phobien. Im Verlaufe des Buches verlieren die meisten dieser Eigenschaften jedoch an Relevanz, lediglich ihre Nichtbeziehung und ihr Starrsinn spielen tragende Rollen.

Drumherum kreiert Heinichen einen bunten Reigen von Figuren, deren Authentizität zwar glaubwürdig und in der Realität wiederentdeckbar ist, nicht umfassend jedoch die Art und Weise, wie sie aufeinandertreffen. Zunächst erschient das Personal weit verstreut und separiert, aber Zufälle bringen die Personen immer wieder und immer enger zusammen, bis sich alles in Grado kumuliert. Und alsbald fasst man all diese Zufälle als durchschaubar banales Werkzeug des Autoren auf: Zufällig fotografiert die Reisereporterin, eine frühere DDR-Kampfschwimmerin, am Schmuggelschiff herum, zufällig brettert die Kommissarin mit ihrem Motorroller in den SUV des deutschen Geheimdienstmitarbeiters, zufällig arbeitet der Freund der Kommissarin in dem Hotel, in dem der jugoslawische Kriegsverbrecher seine deutschen Kontaktmenschen trifft, zufällig ist der Kollege der Reporterin ein desertierter Ex-Soldat unter dem Kommando des Kriegsverbrechers, zufällig brach die Senatorin aus Rom bereits in den Neunzigern Waffenembargos mit diesen Deutschen, zufällig kommt die Reporterin ausgerechnet bei dem Italiener unter, der die Flüchtlinge aus Syrien anschiffen half, und so weiter. Alles zieht sich schnell auf ein paar wenige Kontakte und Begegnungen zusammen, und als wäre das alles auch wirklich bestens konstruiert, macht Heinichen diesen Umstand sogar noch zum Inhalt seiner Geschichte.

Dabei ist das gegenwärtige Europa mit seinem vermeintlich weißwestigen Deutschland, kriegsverbrecherischen Slowenien und Kroatien, korrupten Italien, schmierigen Österreich und der flüchtlingsüberlaufenen Türkei eine willkommene Zielscheibe für den Enthüllungsfiktionalismus, den Heinichen hier gekonnt anwendet. Mit einer links orientierten politischen Haltung entlarvt er Egomanie und Dummheit an allen Enden, sowohl in den höchsten politischen Kreisen als auch im tumben Rechtsradikalismus. Heinichen vermittelt eine gesunde gesellschaftskritische Haltung, wenn auch nah an der Verschwörungstheorie. Nur an der Form hapert es ein wenig.

Denn abgesehen von den Zufällen gibt es noch einiges zu verbessern: Heinichen kann keine Dialoge. Anstatt Informationen aus dem Off einzustreuen, lässt er seine Protagonisten vor sich hin monologisieren; das wirkt gestelzt und konstruiert und erschwert die Identifikation mit den Figuren. Zudem bauscht er einen Fall auf, der, so will es aber viel zu häufig das Thrillergenre, mit viel Blabla und Inneneinsicht am Fall selbst vorbeiblubbert. Der wiederum löst sich – so viel Spoiler muss sein – weniger als Folge von Ermittlungen auf, als in den plötzlichen Tod einiger Beteiligter, sowie letztlich in Luft, inklusive offener Fragen. Das nun ist zwar angenehm realistisch, aber im Sinne der Geschichte etwas unbefriedigend, weil es den Eindruck erweckt, der Autor hätte zum Ende nicht weitergewusst und die Lust am Fabulieren verloren.

Dabei liegt ihm die eigentlich, denn wie viele offene Enden in Europa einst und heute Heinichen zusammenknotet, das zeugt von einem weiten Horizont und von fundierter Recherche. Auch tappt er nicht in die Falle sinnloser Gewaltfantasien: Ohne Schmerzen ist die Geschichte zwar nicht erzählbar, aber er weidet sich nicht an ihnen. Dafür aber daran, dass Frauen auch mal nackt oder nur leicht bekleidet herumlaufen; das muss am Alter des Autoren liegen.

Als Thriller also ist „Borderless“ nicht eben ein herausragender Knaller, als enthüllender Gegenwartskommentar zur Lage in Europa hingegen sehr wertvoll. Und topaktuell, siehe Carola Rackete und die Widerstände, denen sie sich ausgesetzt sieht.