Von Matthias Bosenick (21.10.2014)
Das neue Album von U2 ist – mal abgesehen von der Marketingmethode – streitbar. Das, was das Quartett abliefert, hat es im Grunde nicht nötig. Die beiden vorhergehenden Alben waren relativ frei davon, kundenorientiert zu sein. „Songs Of Innocence“ ist dies jedoch weitgehend. Gute Ideen haben die vier Herren weiterhin, das ist unbestritten und immer wieder zu hören, doch betten sie die in einen Kontext, der sie zu stark verdeckt. Stadionhymnen sind hier Programm, sie funktionieren live wohl am besten, aber auf Platte nerven sie. Und: Eine Band, die ihr Album bei Apple verschenkt, sollte ihrer LP doch einen Downloadcode beilegen, oder?
„Songs Of Innocence“ geht gut los. „The Miracle (Of Joey Ramone)“ ist eine auch musikalisch angemessene Referenz an den Punkerfinder, der Interviews zufolge ein wichtiger Einfluss zu Gründungszeiten der Dubliner Band war. Die Gitarre ist rauh und knarzig, der Sound biedert sich dennoch nicht beim Punk an. Gut gemacht. Es schließen sich Songs mit guten Melodien, guten Soundideen, guten Effekten an – die leider aber auch alle mit kitschigen, nervigen, banalen Melodien, Ideen und Effekten durchsetzt sind, was die guten Anteile beiseite drängt. Besonders anstrengend ist, dass Bono in einer viel zu hohen Stimmlage seine Texte presst, als würde er sich bei den aktuellen und unhörbaren R’n’B-Trends anbiedern wollen. Abgesehen davon, dass sich viele Elemente angenehm an die Zeit um das hervorragende „The Unforgettable Fire“ (1984) lehnen, erscheint es so, als würden U2 jetzt bei ihren nervtötenden Epigonen (insbesondere den Ex-Radiohead-Epigonen Coldplay und Muse) abgucken, wie man mit seiner pathetischen Musik die Charts dominiert. Das ist unnötig und sehr schade.
Auch schade ist die Veröffentlichungspolitik. Im Vorfeld gab es eine Online-Single namens „Invisible“, die sich auf dem Album nicht wiederfindet – jedenfalls nicht offiziell. Es gibt nämlich eine Deluxe-Edition mit einer Bonus-CD, da ist „Invisible“ als Hidden-Track enthalten. Gar nicht taucht „Ordinary Love“ auf, das U2 für den „Mandela“-Soundtrack verfassten und das es sonst nur noch als extrem teures 10“-Vinyl aus dem US-Record-Store-Day-Wiederverkauf gibt. Nun. Den interessantesten Song liefern U2 lediglich auf der Deluxe-Edition mit: „The Crystal Ballroom“ ist ein ungewöhnliche Dancefloor-Track, der Spaß macht und im U2-Kosmos relativ singulär ist, maximal vergleichbar mit „God Part 2“ oder „Discothèque“. Den 12“-Mix dieses Stücks gibt es lediglich auf der limitierten Doppel-LP in weißem Vinyl, der wiederum nicht mal ein Downloadcode beiliegt – ein unerklärliches Versäumnis. Die Deluxe-CD beinhaltet neben zwei Bonus-Tracks und einigen Alternativ-Varianten noch Akustik-Versionen einiger Album-Songs – allerdings zusammengefügt zu einem einzelnen Track, also nicht einzeln anwählbar, im Gegensatz zur Download- oder Streaming-Version. So ein Unsinn. Zudem nervt gerade bei diesen Versionen Bonos durchdringende hohe Stimme.
Den Unsinn leisteten U2 sich auch damit, dass sie das Album iTunes-Kunden in einer Überraschungsaktion einfach mal schenkten, bevor jemand auch nur wusste, dass es überhaupt existiert. Kann man machen, damit erhielten sie zumindest neben der großen Zahl an offiziellen Downloads eine maximale Aufmerksamkeit, inklusive maximaler Häme. Andere Künstler schämten sich fremd, Apple-Nutzer klagten über die ungewollten Zusatz-Inhalte. Nun: Erstere wählen bisweilen eigene Fremdschäm-Wege für ihre Aktionen, zweitere sollten aufhören, über ungefragte U2-Musik zu motzen, und mal grundsätzlich hinterfragen, worauf sie sich beim Kauf ihrer Produkte so einlassen. Den Gedanken wiederum machen sie sich nicht, dabei regten U2 mit ihrer Aktion mindestens dazu an, was sie wiederum rechtfertigt.
Nicht hingegen dieses in Summe enttäuschende Album. Der Rezensent wird es fast so selten hören wie „All That You Can’t Leave Behind“, das vor 14 Jahren bis auf drei, vier gute Songs zu sehr nach Keane klang und damit nervte. Es ist in der Tat schade, dass U2 hier auf Mutiges oder Spannendes wie „Vertigo“, „City Of Blinding Lights“, „Unknown Caller“ oder „Get On Your Boots“ wie auf den jüngsten beiden Alben verzichten. Das Cover aber, das ist toll. Darauf umarmt Schlagzeuger Larry Mullen Jr. seinen Sohn, in Schwarzweiß, in demütiger Pose. Großartig. Wenigstens das setzt einen Pflock.