Von Matthias Bosenick (15.06.2023)
Man wird nicht jünger, aber man bleibt Jünger von The Wedding Present: Die Schrammel-Indierock-Könige griffen 2022 ein Konzept von dreißig Jahren zuvor auf und veröffentlichten jeden Monat eine Single mit je zwei neuen Songs, die sie nun, wie weiland auf „Hitparade“, als „24 Songs“ zusammenfassen. Diese Doppel-CD – in der Deluxe-Buch-Version mit DVD – birgt nun sogar 29 Songs in über zwei Stunden, die das Portfolio der heutigen, in dieser Form keine fünf Jahre alten The Wedding Present abdecken, also immer noch mal schnellen, mal entschleunigten Indierock mit dröhnenden Gitarren, angedeutetem Geschrammel und catchy Melodien, aber auch zarte Abwandlungen davon. Und einen Remix von den Utah Saints. Anders als bei „Hitparade 1“ und „Hitparade 2“ ist hier allerdings die Reihenfolge der Singles sowie deren A- und B-Seiten komplett durcheinander, Weihnachten ist jetzt mitten im Jahr, die sehr wenigen Coversongs sind nicht gebündelt. Macht nix. Es gibt gute neue The-Wedding-Present-Musik!
Die tiefe Dunkelheit, die The Wedding Present 1992 noch von der grandiosen „Seamonsters“ aus dem Jahr davor in die „Hitparade“-Songs hineinfließen ließen, legten sie spätestens 1996 mit „Saturnalia“ für eine vorsichtige Fröhlichkeit ab, die nach der Reunion 2005 auf „Take Fountain“ einer Melancholie Platz machte, die dadurch bedingt war, dass Bandkopf und Sänger David Gedge darauf seine Trennung von der Cinerama-Mitmusikerin Sally Murrell verarbeitete. Allmählich kam er drüber hinweg und ließ auf den folgenden Alben auch wieder andere Stimmungen zu. Auf den 29 Songs von „24 Songs“ lässt er sämtlichen für das Oeuvre seiner Band bekannten Stimmungen Raum, inklusive Electro und Punkrock, was eher unüblich ist.
Natürlich erfindet Gedge, heute 63 Jahre alt, kein Rad so richtig neu, wer The Wedding Present kennt, erkennt sie wieder und hat zunächst Schwierigkeiten, die Unterscheidbarkeit von alten Songs sowie auf dem Doppel-Album untereinander auszumachen, doch hilft es da, die Stücke wirklich Zug um Zug zu hören und ihnen Luft zum Atmen zu geben. In „Strike!“ fuzzt der Bass mal wieder wie früher, in „The Loneliest Time Of Year“ bratzt die Gitarre in den lieblichen, eigentlich kitschigen Weihnachtssong hinein, in „We Should Be Together“ singt Gedge wieder im Duett mit einer Frau, wie früher, und hier ist es Louise Wener von der Band Sleeper, von denen der Song im Original ist; an anderer Stelle übernimmt dies Melanie Howard, die auch bei Cinerama mitmischt. Aus einer klampfigen Ballade erwächst herrlicher Noiserock mit Feedback wie in „Each Time You Open Your Eyes“. „We All Came From The Sea“ hat einen modernen punktiert groovenden Bass mit einer Anmutung von Cowbell und Postpunk-Gesang, wie man es von der Band eher nicht gewohnt ist, es ihr aber bestens steht und den Reigen erweitert; überhaupt ist dieser Song ein Highlight hier. Auch die speedige Signatur-Schrammelgitarre von Peter Solowka, der die Band 1991 zugunsten seines Projektes The Ukrainians verließ, findet hier häufig Nachhall. Und immer, wenn man glaubt, ein Song sei mittelmäßig, beliebig oder im verwechselbaren Midtempo gehalten, kriegen The Wedding Present die Kurve und biegen in eine unerwartete Richtung ab. Der nächste Song ist dann ja eh wieder ganz anders. Zum Beispiel das The-Clash-Cover „White Riot“, das genau so klingt, wie es heißt: Auf-die-Fresse-Punkrock, überdies einer der fünf Bonus-Songs.
Wie üblich singt Gedge häufig im lyrischen Ich, erzählt von Enttäuschungen und spricht ein lyrisches Du an, also ganz wie im Beziehungsdrama, das man von ihm seit „Take Fountain“ so gewohnt ist und was man früher gar nicht so deutlich heraushören konnte, weil seine Stimme zu Beginn noch eher hinter der Musik versteckt war und trotzdem ausnehmend charakteristisch. Eher abstrakte Songtitel wie „Go Go Go“ und „La La La“, das man sich überdies auch gut auf der „Bizarro“ von 1989 vorstellen kann, sprechen da eine andere Sprache, passen aber wiederum ins Gefüge, denn sie erinnern an „Yeah Yeah Yeah Yeah Yeah“ von dem 1994er-Album „Watusi“.
Gedges Band besteht heute aus Leuten, die maximal fünf Jahre dabei sind, also aus Legionären, wie bei einem Franchise, und trotzdem ist der Sound überzeugend vertraut. Der erwähnten Bassistin Melanie Howard, die seit 2018 mitmacht, folgten 2019 Gitarrist Jon Stewart von Sleeper und 2021 Schlagzeuger Nicholas Wellauer. Gäste gibt’s auch, etwa Charles Layton, Drummer von Art Brut, auf „Strike!“, „Telemark“ und „Each Time You Open Your Eyes“.
Die 24 Songs erschienen zunächst 2022 monatlich als 7“-Single sowie abschließend als gesammelte Box mit allen zwölf Tonträgern. Da die genau so unbezahlbar ist, wie sich nachträglich die zwölf Singles separat zuzulegen, freut man sich nun über diese Veröffentlichung mit fünf Bonus-Tracks, darunter einem Remix von Utah Saints, die aus „We All Came From The Sea“ einen merkwürdig uninspirierten Neunziger-Billostampfer machen, sowie der 2018er-Record-Store-Day-Single „Jump In, The Water Is Fine“ in einem „Japanese Edit“ und weiteren Raritäten. Auf der DVD gibt es zwei je einstündige Dokus sowie das Video zur schmalzigen Weihnachtssingle „The Loneliest Time Of Year“, dazu ein kleines Büchlein mit Fotos und Infos.
Das letzte richtige Album ist bereits sieben Jahre alt, „Going, Going …“ erschien 2016. Seitdem – nun, The Wedding Present hauen ständig Singles und EPs raus, zudem quasi parallel zur „24 Songs“-Reihe noch die beiden fantastischen pandemischen Akustik-Alben „Locked Down And Stripped Back“ sowie diverse Veröffentlichungen uralter Konzerte oder neuer Radio-Sessions. Reine Studioalben gibt es überhaupt erst neun – seit 1985. Wenn man sich nur auf die beschränkt, verpasst man aber einiges, von „Tommy“ 1988 mit den frühen Singles bis hin zu „24 Songs“. This is what Christmas is about!
Die 29 Songs auf „24 Songs“ und ihre Quellen:
01 I Am Not Going To Fall In Love With You (Februar, A-Seite)
02 Memento Mori (Dezember, B-Seite)
03 That Would Only Happen In A Movie (August, B-Seite)
04 We Interrupt Our Programme (Juli, A-Seite)
05 We Should Be Together (Januar, A-Seite, Original von Sleeper, „This Time Tomorrow“, 2021)
06 Strike! (Mai, B-Seite, Original 2020 auf der BBC 6 „Shaun Keaveny Session“ als „Don’t Ask Me“)
07 Science Fiction (November, A-Seite)
08 Summer (September, B-Seite)
09 Each Time You Open Your Eyes (August, A-Seite)
10 We All Came From The Sea (September, A-Seite)
11 Monochrome (April, A-Seite)
12 Kerplunk! (Juni, B-Seite)
13 Don’t Give Up Without A Fight (Januar, B-Seite)
14 X Marks The Spot (Mai, A-Seite)
15 You’re Just A Habit That I’m Trying To Break (April, B-Seite)
16 Plot Twist (November, B-Seite)
17 Whodunnit (Oktober, B-Seite)
18 A Song From Under The Floorboards (Februar, B-Seite, Original von Magazine, „The Correct Use Of Soap“, 1980)
19 Telemark (Juli, B-Seite)
20 Astronomic (Oktober, A-Seite)
21 Go Go Go (März, A-Seite)
22 Once Bitten (Juni, A-Seite)
23 La La La (März, B-Seite)
24 The Loneliest Time Of Year (Dezember, A-Seite)
25 White Riot (2018, A-Seite, Split mit Cinerama, Original von The Clash, „The Clash“, 1977)
26 Panama (2019, B-Seite von „Jump In, The Water Is Fine“-7“)
27 Jump In, The Water’s Fine (Japanese Edit)
28 We All Came From The Sea (Utah Saints Remix) (Dezember 2022, 12“)
29 Teper My Hovorymo (Original „Тепер Ми Говоримо“ von The Ukrainians, „Ворони = Vorony“, 1993)