Von Matthias
Bosenick (23.12.2019)
Sergeij Waschowitsch Pratajev war
ein Zeitgenosse von Arnold Hau (mit mehr Gewicht auf „Genosse“
als auf „Zeit“), von ähnlicher Universalgelehrtheit, aber erst
ein halbes Jahrhundert später von Holger Oley und Frank Bröker
entdeckt. Dem trinkfesten Russen widmete das Entdeckerduo so manche
Veröffentlichung, und die jüngste bündelt die von Pratajev
inspirierten Texte zu den Alben, die es unter dem Namen The Russian
Doctors zwischen 2013 und 2020 herausgebracht haben wird, versehen
mit erläuternden Fußnoten. Eine handliche Reiselektüre, auch zur
Wandergitarre.
Enthalten sind
die Texte ab dem Album „Wiege deinen Rumpf“ aus dem Jahr 2013 bis
hin zum noch in Produktion befindlichen Album mit dem Arbeitstitel
„Die Schönen und die Bösen“, dessen Veröffentlichung für 2020
vorgesehen ist. Einige der Lieder basieren auf Gedichten von
Pratajev, andere sind lediglich von ihm inspiriert; es ist davon
auszugehen, dass jemand, der bis 1961 lebte, kein Wort wie „Girl“
verwendet haben würde und auch moderne technische Errungenschaften
oder die Band Killing Joke eher nicht erlebte, es sei denn, er
provozierte bewusst Anachronismen. Solches wiederum ist Oley und
Bröker sehr gut zuzutrauen.
Denn der Erfindungsreichtum
der beiden Autoren ist unermesslich: Dem Pratajev dichten sie seit
1997 so manche absurde Eigenschaft oder biografische Wendung an.
Manches steuert so dicht am Möglichen entlang, dass die
Erläuterungen authentisch und nach klassischer, jedoch nicht eben
geradliniger Künstlerbiografie wirken, anderes kippt indes so sehr
über das Absurde hinaus ins Alberne, dass die Übertreibung den
Lacher verhindert. Schnell erwartet man nämlich das Groteske und
misst es nur noch an seiner eigenen Erwartung. Dennoch, Pratajevs
Leben bietet eine große Projektionsfläche für Eskapismus,
Forscherdrang und Reiselust, ganz abgesehen von Alkoholdurst und
sexueller Lust. All dies spiegelt sich, ansprechend minimalistisch
und bisweilen mit mehrerlei Deutungsmöglichkeit versehen gedichtet,
auch in seinen Texten wieder, die The Russian Doctors mit Vorliebe
vertonen.
Von deren Spielfreude indes kann nur zeugen, wer
auch die seit 2003 veröffentlichten Alben kennt; das Büchlein ist
somit eher eine Trockenübung für die Fans, wenn nicht ein
Appetithappen für Lyrikliebende. Man kann jedoch davon ausgehen,
dass auch die Alben von hoher Qualität sind, schließlich tragen
beide Beteiligten jahrzehntelange Erfahrung im Herzen. So ist Oley
unter dem Alias Makarios der Kopf der noch in der DDR gestarteten
Avantgardeband Die Art sowie diverser anderer musikalischer
Gruppierungen, während der Emsländer Bröker alias Dr. Pichelstein
ebenfalls musikalisch, aber auch schriftstellerisch tätig ist, unter
anderem zur Thematik Eishockey, die sich auch einmal im Liederbuch
niederschlägt. Gemeinsam betreiben die beiden außerdem das
Musikprojekt Goldeck.
Kurzweilig und unterhaltsam ist
dieses Liederbuch ganz gewisslich. „Hier war er noch nie“ ist
jedenfalls eine großartige Grabinschrift, und wer Killing Joke
zitiert, kann so schlecht nicht sein. Und doch: Arnold Hau war zuerst
da!