Steve Roach & Vidna Obmana – The Live Story – A New Wave Of Jazz 2025

Von Matthias Bosenick (18.08.2025)

Wenn jemand mal eben kurz siebeneinhalb Stunden Zeit hat und nicht so richtig weiß, was er damit anfangen soll, empfiehlt sich „The Live Story“, eine Sammlung von vier gemeinsamen Gig-Mitschnitten der Soundtüftler Steve Roach aus Kalifornien und Dirk Serries aus Antwerpen, jener unter seinem Alias Vidna Obmana. Aufgenommen zwischen 1996 und 2000, präsentiert das Duo diese Performances uneditiert und zum eskapistischen Mitchillen: Das ist Ambient, versetzt mit Experimenten, eine zeitlose Reise durch unermessliche Sphären, gelegentlich auch mit ansprechenden Schräglagen.

Eigentlich hätte man bei der Kombi der beiden Experimentatoren etwas Wuchtigeres erwartet als das, was man hier bekommt: Kein Industrial ist zu hören, keine Electro-Tracks, nicht einmal so richtig deftig ausgeprägt der Tribal, für den die Roach und Serries auf ihren gemeinsamen Studioalben – das erste, „Well Of Souls“, erschien 1995 und erhielt jüngst eine Wiederveröffentlichung – bekannt waren. Rhythmen sind hier, sofern überhaupt, zumeist lediglich zart angedeutet, als Struktur zum Festhalten, während man in die Unendlichkeit blickt, generiert vermittels Soundscapes.

So zumindest in den ersten zwei Stunden, die einem Gig in Portland gehören, mitgeschnitten in der wohlig halligen Old Church am 9. November 2000 und bereits vor zwei Jahren als Download zugänglich gemacht. An der Frame Drum unterstützte damals Jeffrey Fayman, den Rest übernahmen die Hauptakteure, und zwar waren das neben Synthies, Percussions – darunter der Regenmacher – und schamanischen Gesängen die slowakische Schnabelflöte Fujara und das Didgeridoo, und wer jetzt glaubt, diese Instrumente fortwährend heraushören zu können, rechnet nicht mit der Verfremdungskunst des Duos; der Hauch von Blasinstrumenten weht hingegen durchaus erkennbar durch viele Passagen. Nicht alles ist hier auf Schönheit und Wohlgefallen ausgelegt, Serries und Roach lassen die Stimmung durchaus auch mal kippen, in ein leichtes Unwohlsein, und dezente Beklemmung, mit Halbtönen und Akkordverschiebungen, nicht aber mit Tempo oder harschen Geräuschen. Sobald es rhythmischer wird, mag man sich an die alten Trance-Tracks von Dead Can Dance erinnert fühlen, die die Kombi aus Versunkenheit und Tanz etablierten. Nach der Hälfte des Gigs dringt kurzzeitig eine gewisse Nervosität in die Rhythmen ein, die im Kontrast zu den sphärischen Sounds leicht an frühe Stücke von Aphex Twin erinnert; Richard D. James hatte da mal einen Track, der nach einem der hier eingesetzten Instrumente benannt war.

Die nächsten drei Konzerte verarbeitete das Duo bereits anteilig im Jahr 2000 auf dem Album „Live Archive“, und zwar, indem es Ausschnitte daraus neu kombinierte und zu eigenen Stücken zusammensetzte. Hier gibt’s die fünfeinhalb Stunden Rohmaterial nun am Stück, beginnend mit dem Auftritt am 26. Juli 1997 beim Verucchio Festival in der Arena Mura del Fossato in Verucchio, Italien. Die Versuchsanordnung ähnelt sich, alles ist Ambient mit Hall und shakenden Grooves, generiert hier zusätzlich mit Flöten, dazu erklingt auch mal ein Wispern, und auch hier tragen viele Atmosphärenwechsel etwas Düsteres, Unkomfortables und lassen den Mitschnitt als Ganzes leicht beklemmend wirken, in etwa wie den Soundtrack zu einem düsteren Film. Alsbald wandeln sich die Soundscapes tatsächlich in etwas Rhythmisches aus, werden dadurch aber kaum weniger dunkel.

Der Milwaukee-Mitschnitt vom 30. Juli 1997 aus der Shank Hall beginnt weit perkussiver als die bisherigen Auftritte. Zunächst sogar ohne Soundscapes, die kommen später erst hinzu, und dennoch strahlt der Gig – auch mit dem Hall – mehr Leere aus als die vorherigen, bei gleichbleibender Düsternis. In Sachen Horror-Score legt dieser Beitrag sogar noch zu, die Stimmung ist noch um einiges bedrückender als bei dem Set aus Italien. Als Instrumente sind hier zusätzlich Pipes eingesetzt, die das Duo für die Soundscapes verwendet, und auch spooky Stimmen sind hier im Hallraum wahrzunehmen. Da die fragmentarischen perkussiven Parts in einer loopartigen Form zum Einsatz kommen, ist hier eine Nähe zum Industrial am ehesten auszumachen. Erst nach einer Weile gewinnt der sphärische Ambient wieder Oberhand, mit Regenmacher und Vogelstimmen wähnt man sich gar im Urwald. Doch auch dort, das weiß man und das erfährt man hier, drohen Gefahren und ist es unheimlich. An diesem ungastlichen Ort verweilt das Duo indes nicht, sondern kehrt zurück in die Einsamkeit eines hallenden Raumes – und sogar ein einen Club, zu einem ansatzweise als solchen wahrnehmbaren Technobeat. Bevor der Gig ins Leere rollt.

Dort beginnt der Auftritt in den Niederlanden, der vierte und letzte dieser Sammlung: Am 1. November 1996 traten Serries und Roach in Huizen auf, im dortigen Theater 3-in-1. Dieser Gig beginnt mit den dunklen, schräggeneigten Soundscapes, die rhythmischen Elemente treten erst im Verlauf und nur spärlich hinzu; deren reduziert shuffelndes Auftreten hat etwas von manchen Scores spannender Thriller. Didgeridoo und Regenmacher hat das Duo neben den Percussions und Synthies abermals dabei, ebenso Flöten. Hier lassen die Soundscapes bisweilen wieder etwas Harmonisches zu, in dem man abtauchen möchte, das die beiden Improvisateure dann aber alsbald dennoch mit Neigungen versehen. Irgendwann landet man dann doch wieder mit ihnen im Gespensterschloss. Aus dem trauen sich die beiden auch eher selten heraus; mal gibt es eine leicht musikalische Sequenz, die den Ansatz einer Melodie und einer Tanzbarkeit trägt, eine Unter-Wasser-Passage mit richtig schönen Synthieflächen oder so etwas wie orientalische Percussion, zumeist aber kratzen, schaben, rasseln, ächzen, schleifen auf nebligem Grund. Und doch endet alles entspannt, außerhalb düsterer Mauern, eher wieder im Urwald.

Die siebeneinhalb Stunden sind verteilt auf 44 einzelne Tracks, die nach den Auftrittsgegenden benannt und druchnummeriert sind. Übergänge setzt das Duo nicht willkürlich, es sind in der Tat Veränderungen innerhalb der Gigs auszumachen, sobald ein neuer Index ansetzt. Das hier ist offenbar alles improvisiert, und so gut, wie es zusammengreift, kann man sich nur freuen, dass die beiden Tüftler sich dereinst über den Weg liefen und ihre gemeinsamen Leidenschaften auszuleben begannen.