Von Matthias Bosenick (04.10.2022)
Fünf Alben aus dem Hause Sireena Records und Shack Media landeten innerhalb kürzester Zeit im Briefkasten: „A Floating City“ von Nautilus, „Live in Haldern 1985 & 1986“ von The Radio, „Waiting For The Daylight“ von Erja Lyytinen, „The Universe By Ear III“ von The Universe By Ear und „Saba“ von The Electric Family. Also Ambient, Achtzigerrock, Bluesrock, Progrock und Indie.
Nautilus – A Floating City – Sireena 2022
Die Zutaten bleiben auf Nautilus-Album Nummer acht erhalten: Jules Verne, Pink Floyd, Tangerine Dream. Dieses Mal nehmen sich die Ruhrpottler den Roman „Une ville flottante“ von Jules Verne vor und begleiten diese schwimmende Stadt namens „Great Eastern“ von Liverpool aus in Richtung Amerika. Dabei bedienen sie sich der Mittel von Progrock und Berliner Schule, heißt: Pink Floyd um „Dark Side Of The Moon“ herum, als sie die psychedelisch-experimentelle Rock-Phase zugunsten weicher epischer Zugänglichkeit abgelegt hatten, sowie elektronisch erzeugter Ambientflächen. Es dauert zwei Drittel des viertelstündigen dritten Tracks, bis sich aus der „Comfortably Numb“-Szenerie die Gniedelgitarren herausschälen und dem verträumten Schlagzeug und den flächigen Synthies Konturen verleihen. Dann geht‘s aber auch zur Sache, zumindest im Rahmen von Nautilus, deren Sache beinharter Rock‘n‘Roll nicht ist. Die Band steigert sich richtig rein und entwickelt einen Sog, dem auch der zaghaft kopfnickende Hörer nicht entgehen kann.
Erstaunlich ist ja, dass Nautilus zu ihrer Gründung ein Elektronik-Duo waren, das Unterstützung von einem Blues-Gitarristen erhielt. Der Blues erfährt hier indes keinen Nachhall mehr, die Gitarren bedienen sich klar im Prog, und die elektronische Seite bleibt im Ambient nach Berliner Vorbild verhaftet. An manchen Stellen duckt man sich beim Hören etwas, wenn die Arrangements und Kompositionen ins Schlagereske kippen, etwa in „Unguilty“ mit seinen cheesy Keyboard-Melodien. Und plötzlich wird‘s wieder so überraschend technoid und clubby wie auf dem Vorgänger „The Mystery Of Waterfalls“, dem Comeback-Album, wenn die Band plötzlich fabelhafte Beats zaubert, dazu unerwartete Effekte generiert und über all dem dann die elektrischen Gitarren wimmern, wie im „Moondance“ – dann wird‘s einzigartig, dann finden Nautilus ihre eigene Sprache.
Danach fällt die Band zurück ins Betäubte. Darauf muss man sich einlassen, hier werden keine – um beim maritimen Thema zu bleiben – Tsunamis ausgehalten, Meeresungeheuer bekämpft oder Klippen umschifft, das Album gleitet sanft und einlullend vor sich hin, dabei indes musikalisch immer bemerkenswert, das muss man schon wahrnehmen. Und doch: alles so schön chillig hier. Zwischen zwei Ambient-Trips, der letzte könnte auch von den Dire Straits sein, ungefähr „Brothers In Arms“, wird‘s nochmal zur Akustikgitarre plus Gegniedel etwas flotter, aber Rock‘n‘Roll geht definitiv anders. Einmal mehr erhielt die Band Hilfe von Grobschnitt-Eroc, der den Sound verfeinerte. Was auch ihm nicht gelang, war, das Englisch von Meiko Richert und Katja Weigel zu entteutonisieren, aber sei‘s drum, das hat ja auch was.
The Radio – Live in Haldern 1985 & 1986 – Sireena 2022
Rockmusik mit zeitgemäßen Keyboardeinsätzen: Rückblickend ist der Sound der Achtziger-Band The Radio nicht auf eine Art gealtert, der man sich heute ohne einen Anflug von Scham hingeben mag. Die Songs gehen dem Ehepaar Jennifer und Winfried „Win“ Kowa zwingend von der Hand, gerade der Gesang erinnert an Inga Rumpf von Frumpy und hebt sich von anderen Rockbands jener Zeit ab, die vorrangig von Männern angeführt waren. Manche Gitarreneffekte sind wunderbar psychedelisch oder wavig, manche Lieder schieben flott nach vorn, die E-Drums kann man gut verkraften, nur das Keyboard nervt ungemein, mit ausgesprochen cheesigen Flächen und Melodien oder angedeuteten Fanfaren. Live funktionieren die Songs indes ganz gut, die Stimmung kocht auf den beiden Gigs in Haldern, und aus heutiger Sicht kann man sich das bestens auf einem Altstadtfest zur Primetime vorstellen. Wer damals noch nicht dabei war, dürfte heute jedoch seine Schwierigkeiten damit haben, The Radio zu Hause auf Tonträger zu genießen.
Für das Label Sireena ist es in jedem Fall eine Ehre, dieses Zeitdokument veröffentlichen zu dürfen. Tonträger gibt es von The Radio nämlich bislang nur einen: Die EP „The Radio-Active“ erschien 1982 auf Jennifers eigenem Label RougeRecords. Als Kuriosum gibt‘s die EP bei Bandcamp mit einem Bonus-Track, der 1988 entstand, als die Produzenten der Doku „Werner – Das Rennen“, ja: echt, die Band fragten, ob sie nicht einen älteren Song dafür einspielen wollten; sie entschieden sich für eine Neukomposition. Erstaunlich genug also, dass The Radio ein Jahrzehnt lang – in wechselnder Besetzung – die Bühnen der Republik bereisten und haufenweise Fans generierten, ohne denen Futter für zu Hause anbieten zu können. Ebenso erstaunlich ist, dass der Keyboarder stets ein Söldner war – und doch so dominant. Man möchte sich die Songs nochmal ohne ihn anhören, das könnte was werden. Weitere Studioaufnahmen gab es überdies trotzdem noch, drei davon aus dem Jahre 1985 sind diesem Zusammenschnitt zweier Haldern-Gigs angefügt.
Die Eheleute Kowa aus Frankfurt am Main (Jennifer) und Düsseldorf (Win) hatten überdies eine Musikbiografie vor ihrer schwer googelbaren Band. Jennifer erklomm schon als Teenager Bühnen, unter anderem singend bei Excursion, The Brood, Zoores, Tatzelwurm, Octopus, und auch Win gründete als Teenie seine erste Band Zoom, stieg temporär bei Straight Shooter ein, um bei Streetmark weiterzumachen und sich seiner späteren Frau Jennifer bei Octopus anzuschließen. Beide stiegen dort 1980 aus und veröffentlichten 1981 unter dem Namen Jennifer Capell die Single „I Hate Snobs“, bevor es mit The Radio richtig losging. Und 2022 mit dieser Live-CD eine Rückschau bekommt. Dazwischen produzierte das Paar als Win Kowa acht chillige Alben, mit denen sie sich für die Zusammenarbeit mit Musikern und Werbeagenturen weltweit qualifizieren.
Erja Lyytinen – Waiting For The Daylight – Tuohi Records 2022
Flinke Finger hat Erja Lyytinen, mit denen sie den Bluesrock darbietet, das stellt man staunend fest, wenn man „Waiting For The Daylight“ hört, ihr Album, auf dem sie sich angeregt durch die Coronapandemie eine Erdschwere aneignet, die den inhaltlich schweren Themen entspricht. Lyytinen rockt, was das Zeug hält, sie kann Riffs, Melodien, Fingerfertigkeiten und vor allem Slides, ihre Spezialität. Mit Bass, Schlagzeug und nicht selten als Orgel eingesetzten Keyboard verdichtet sie ihren Bluesrock zu fetten Songs, schichtet Overdubs übereinander und generiert damit Dichte und Wumms. In ihren zarten Momenten treten die musikalischen Qualitäten der Mitwirkenden umso hörbarer Zutage. Die Songs sind in sich zwar zumeist recht konventionell, eher im angebluesten Hardrock als im Deltablues verankert, aber durchsetzt mit technischen Raffinessen und dank angenehmer Melodien auch immer im Ohr haftend. Und frei von Kitsch.
Einen Kontrast gibt es zur rockigen Rockmusik: Lyytinens Stimme ist klar und hell, man würde hier eher etwas Kehliges, Rauhes erwarten. Eine Alannah Myles etwa. Das ist Lyytinens Anliegen nicht, und das passt letztlich auch ganz gut, dass sie hier in diesem dichten Rockgewand klar erklingt. Und dann wieder an ihrer elektrischen Gitarre soliert – auch gern mit sich selbst im Duett – und ihre Slides per Flaschenhals über das Griffbrett wandern lässt. Sie schüttelt den Blues aus dem Handgelenkt, bei ihr scheint jeder Schuss aus der Hüfte zu kommen und ins Ziel zu treffen. Ziemlich cool, wie es sich für den Blues gehört. Und sie hat eine gute Band dabei.
Vermutlich geht es vielen so, dass sie von Lyytinen außerhalb eingeschworener Blues-Kreise noch nie gehört haben. Dabei ist die Finnin keine Newcomerin: 1976 geboren, hat sie in den zurückliegenden 20 Jahren bereits ein Dutzend Studioalben auf dem Zettel, dazu einiges an Livedokumenten, darunter zuletzt „Lockdown Live“. Zudem brachte sie Handbücher heraus zum Gitarrenlernen – und etablierte eine Tee-Marke, reichlich selbstreferenziell „The Blues Queen Tea“ getauft. Indes, eine Blues Queen ist sie, und ihr neues Album strotzt nur so vor Energie.
The Universe By Ear – The Universe By Ear (aka III) – On Stage Records 2021
Noch solche Scherzbolde, die einfach mal alle Alben nach sich selbst benennen und lediglich unter dem transparenten Plastikträger des Digipaks den Vermerk verstecken, „This is album III“. Und verdammt, was für ein Album das ist! Das Trio aus Basel macht Sachen, die man in drei Karrieren nicht zusammenbekommt, geschweige denn auf nur einem Album. Man ahnt die Dimensionen, wenn man erfasst, dass sich die Dreiviertelstunde Musik auf nur fünf Tracks erstreckt, von denen der erste gleich mal zwölf Minuten dauert. Progressiv bedeutet hier nicht episch gniedelnd, sondern verschachtelt, vertrackt, komplex, repetetiv, und bei allem auch noch groovend wie Sau. Hier trifft Indierock auf Jazz, Prog auf Klassik (sowieso, schon klar), Pink Floyd (Epik) auf die Beatles (Harmonien).
Mal wieder untermauert ein Trio die These, dass drei Leute die beste Besetzung für Rockmusik sind (die der Autor dieser Zeilen nicht teilt, als These aber interessant findet). Zumindest hier kommt man nicht auf die Idee, dass diese üppige Musik wirklich nur auf drei Schulterpaaren ruht. Die drei Musiker errichten Fundamente, auf denen sie ihre Tracks geschehen lassen, auf denen sie ihre stabilen Stücke auftürmen, mit Erkern, Verliesen, Rundbögen, dunklen Nischen und sperrigen Schießscharten. Der harmonische Gesang steht dabei im hübschen Kontrast zur oftmals überraschend heavy rockenden Musik, ohne Metal zu sein. Motorpsycho könnten hier Paten stehen, dezent eingesetzt auch mit deren Psychedelik.
Fünf Jahre, drei Alben, keine schlechte Bilanz trotz Pandemie. Aber auch wenn The Universe By Ear ein junges Projekt ist, haben die drei Musiker bereits lange Biografien: Bassist Pascal Grünenfeld und Gitarrist Stef Strittmatter kennen sich von der Band Fido Plays Zappa, was auch das Verschachtelte und das Verspielte in der Musik erklärt. Eine lange Liste an anderen kurzlebigen Bands hat Schlagzeuger Benni Bürgin auf dem Zettel, Dead Lilies, Scorpio Electric, The Jimi Miller Incident, Schmalhans, Bon‘s Angels und das Marcel Lüscher Quartett etwa. Haufenweise Einflüsse also, die das Trio in The Universe By Ear zusammenführt, und das mehr als schlüssig. Da verzeiht man auch die Titelwahl für das Album, die an die von The House Of Love angelehnt ist und eine genaue Zuordnung erschwert.
The Electric Family – Saba – Sireena 2022
Was für eine Wundertüte! Tom „The Perc“ Redecker und sein sehr üppiges Team erweitern auf „Saba“ ihren eh schon nicht gerade eng gesteckten musikalischen Horizont und präsentieren ein Album, das in seinem Stilmix bald wie ein Sampler anmutet, und bei dem trotzdem alle Songs zusammengehören. Die Basis ist wie immer der gut abgehangene Indierock Redeckers, den er gern angebummelt einsetzt, dabei verspielt und catchy. Auf dem sitzt eine wahre Flut von Genres, die die Family schwindelerregend leichtfüßig miteinander verbindet und die harten Brüche zwischen den Übergängen wie Wegmarken erscheinen lässt, nicht wie Stilblüten.
Die ersten zwei Stücke sind noch recht chillig, zart gegniedelte Preziosen, dem Folk nahe, elegisch, medidativ. Die rauhe, verzerrte Stimme setzt einen Kontrast in „Gull Sweat“, der das wohlige Gefühl, das die Musik erzeugt, konterkariert und sie dazu zwingt, sich in einen psychedelischen Rausch zu spielen. In „Reptile“ zieht das Tempo an, die Sitar kommt erstmals zum Einsatz, das Stück erinnert an eine aus den Fugen geratene Rockabilly-Nummer. Und plötzlich bricht mit „Mr. Megalomaniac“ die Katastrophe herein: Das Stück ist ein brutale Industrial-Variante von Indierock, mit treibendem Beat, flirrenden Gitarren, Keyboards, Shouts statt Gesang, Tempo, Druck, Power – und verspielten Unterbrechungen, die der Wiederaufnahme des Terrors nur die Kraft vorbereiten.
Diesem Krawallbrocken kann man nur mit etwas komplett Anderem begegnen: Das trödelige „Alan The Arab“ ist Residents mit Sitar, Helge Schneider, Mike Patton, The Doors und Frank Zappa, also so versponnen, dass es nur lustig sein kann, ohne platt lustig zu klingen. „News From The Echo Room“ muss dann zwangsläufig wieder vergleichsweise normale Musik sein, also streckenweise discoid tanzbarer Indierock mit verzerrt gebellter Stimme, der das Vorgängeralbum „Echoes Don‘t Lie“ zitiert und ein wenig an Phillip Boa erinnert, also die Art Indierock, die man aus Deutschland in den Achtzigern und Neunzigern zu schätzen lernte, eben auch von The Perc Meets The Hidden Gentleman.
Als nächstes kommt ein Bluesstück, ein psychedelisches verbratztes indes, bei dem es sich auch noch ursprünglich um einen französischen Chanson handelt, „La fille de Père Noël“ von Jacques Dutronc nämlich. „Who‘s Your Dream Girl“ dürfte mit seinem entspannten Habitus, dem Midtempogroove und der schmeichelnden Sitar der poppigste Song auf dem Album sein, dann bricht die Family mit „I Love Your Lighthouse“ abschließend nochmal für zehn Minuten live über die Hörenden herein. Aus dem bummeligen Redecker-Song wird bald ein wild galoppierendes Psychedelik-Stück, in dem sich die Family nochmal austoben darf.
Und diese Family ist wie immer prominent besetzt: Bremens Sitar-Spieler Harry Payuta ist dabei, Rolf Kirschbaum, Burghard Rausch, Marlon Klein, Jochen Schoberth, Achim Färber, Peter Apel und Anders Becker. Leute aus Indie und Gruft, Krautrock und Avantgarde also, und so verwundert der Stilmix auf „Saba“ nicht.