Zum dritten Mal sei hier ein Stapel CDs aus Moskau empfohlen, den das Label addicted/noname auf die lange Reise schickte. Bands wie Ciolkowska, Detieti, Dekonstruktor, Disen Gage, Kshettra, Ил, Soom, Thy Grave und Megalith Levitation. Sämtliche Musik gibt es auch auf der Bandcamp-Seite des Labels zum Download. Grüße an Anton aus Moskau und danke für diese grandiosen Empfehlungen!
Ciolkowska
(Циолковская) – Циолковская показала
свое лицо (Вечная 16 08 16) (2016)
Vier
Tracks, davon zwei lediglich Bonus, zusammen aber eine
Dreiviertelstunde lang: Mit ihrem zweiten, womöglich auch fünften
Album werfen Ciolkowska aus Sankt Petersburg statistische Fragen auf,
die sie mit ihrer Musik hinfortwischen, weil man auf ihr sofort ins
Unendliche driftet und alles Irdische vergisst. Hall auf den dezent
verzerrten Gitarren, eine zurückgenommene Stimme, zaghaftes
Schlagzeug, gemächliches Tempo, spacige Sounds: Man braucht bei
diesen Postrock die Drogen gar nicht mehr selbst zu nehmen. Als
Überraschung stellt sich der vierte Track als Electro-Remix heraus,
der aus Ciolkowskas Musik nicht etwa stumpfen Eurodance macht,
sondern die Grundhaltung angemessen in Synthesizer überführt,
ebenso schleppend, aber mit etwas mehr Aggression in den Sounds und
nach der Hälfte in einen flotteren Dub übergehend. Auf Englisch
lautet der Albumtitel nach Eigenaussage übrigens „Ciolkowska
Showed Her Face (Aeonian 16 08 16)“. Kann man sich gut aufgehoben
drin versinken lassen.
Detieti
– В общих чертях (2015)
Was macht Jacques
Cousteau heute? Nach dem Cover des dritten Detieti-Albums zu
schließen, freut er sich mächtig über den futuristischen Funk
dieser Moskauer Band. Die beherrscht alle existierenden Stile und
alle verfügbaren Sounds, und weil durcheinander langweilig wäre,
arrangiert sie alles in nachvollziehbaren Abfolgen, die
merkwürdigerweise nie den Eindruck eines undurchdringlichen
Durcheinanders aufkommen lassen. Funk ist nur die Trägersubstanz für
Avantgarde, Reggae, Punk, Hardrock, jede Form von Metal, Crossover,
Kirmes, Jazz, Swing, orientalische und hawaiianische Musik. Dazu hat
die Band ein Händchen für Melodien und zwingende Kompositionen,
denen man alles abnimmt, auch die krudesten Richtungswechsel. Klingt
nicht nach einem kopfgesteuerten Schaulaufen der bandeigenen
Fähigkeiten, sondern mit dem Herzen und der Seele stringent
komponiert.
Dekonstruktor
(Деконструктор) – Eating The Universe (2014)
Bereits
auf ihrem Debüt – nach der Umbenennung von The Moon Mistress –
rühren Dekonstruktor aus Moskau den zähflüssigen Mörtel an. Tempo
ist etwas für Falschfahrer, das Trio setzt die BPM-Zahl tief unten
an, die Gitarren ebenfalls. Man möchte gar nicht wissen, was da an
Text über den warmen Doom gelegt ist. Und wenn die Band dann doch
mal das Gaspedal entdeckt, stottert der Motor, anstatt zu brettern.
Schnell halten die Jungs nur kurz durch, die Tracks sind in der Regel
lang, bis zu 18 Minuten, und wenn sie mal schnell sind, wird aus dem
Doom eine dunkle Art von Stoner, inklusive Gegniedel. Angenehm, dass
die Band dabei trotzdem Schönheit zulässt, etwa in „To The Red
Part 2“, dessen erster Teil lediglich auf einem Split-Tape mit
Сдоба zu haben ist. Die Band verliert sich in ihren monotonen
Riffs, der Hörer recht schnell ebenfalls. Samples und Störgeräusche
reichern das Brett an und lassen es ins Nichts ausfransen. Eine
dunkle Reise.
Disen
Gage – The Screw-Loose Entertainment (2004)
Wie viele
Alben diese Band aus Moskau inzwischen auch immer haben mag – fünf,
sieben acht? –, dieses Debüt legt Fährten aus, die die Nachfolger
interessanterweise kaum mehr aufnehmen. Mit einem gitarrendominierten
spacigen Dub geht es los, als Einleitung zu einer experimentellen
Genrereise. Das Quartett ist in der beeindruckenden Lage,
gleichzeitig dudelig zu gniedeln und präzise den Rhythmus
vorzugeben. Nicht minder beeindruckend ist, wie schnell man sich an
diesen ungewöhnlichen Mix so sehr gewöhnt, dass er einem noch weit
vor Ablauf des Albums gar nicht mehr so ungewöhnlich vorkommt. Denn
die Band musiziert in aller Ruhe, niemals kommt Stress auf.
Kshettra
– Five Mothers (2017)
Das elektronische Drone-Intro
führt in die Irre: Bass- und Blasinstrument wetteifern mit einem
funky Schlagzeug, und auch diese krumme Geradlinigkeit halten
Kshettra aus Moskau nicht lang durch. Nicht galoppierend, aber rasant
genug, um zu verwirren, wechseln die Musiker aus Железнодорожный
(Schelesnodoroschny) die Stilrichtungen, ohne den Blinker zu setzen.
Da die experimentelle Musik ohne Gesang auskommt, muss man die
einzelnen Elemente ohne vordergründig bindendes Mittel als
zusammengehörig erfassen. Mal verlagert sich der Schwerpunkt auf den
Bass, mal auf die Bläser, mal auf archaische elektronische Effekte.
Man hört Arrangements wie weiland bei den Granden des Siebzigerrock,
aber auch wie aus dem Orient oder aus der Geisterbahn. Im weitesten
Sinne kann man die Musik wohl als Jazz auffassen, für Noise-Rock ist
die Anordnung der Unterschiede zwar absurd genug, aber viel zu
gesittet, also hörbarer, daher sogar leichter akzeptierbar.
Ил/Soom – Split (2013)
Auf diesem Splitalbum doomt es amtlich. Beiden Bands, Ил und Soom, steht je eine gute halbe Stunde zur Verfügung, und beide schaffen gerade mal jeweils zwei Songs in der Zeit. Ил aus Moskau starten mit dem Sound, den man erwartet: schleppender Metal, ordentlich vergniedelt, Feedbacks, tiefergelegte Riffs, aber dazu Dröhnen, Kakophonien, Störsounds, Rauschen, falsch eingestelltes Radio, das Gefühl, sich in einem von Hexen bewohnten Moor verirrt zu haben. Илs zweiter Track besteht aus einem viertelstündigen Horror-Soundscape, düster, undurchdringlich, mit obskuren Sprachsamples und fernem Missklang. Soom aus dem ukrainischen Charkiw (Харків) übertragen diese Atmosphäre auf ihren Sound, ihr erster Track hat ebenfalls keinen Rhythmus, aber erkennbare Instrumente, die wie besessen umherflirren und den Übergang schaffen zurück zu der Art Doom, mit der die Kollegen das Album begannen. Ein schöner Kreis. Schwer verdaulich, aber eindrucksvoll.
Thy
Grave – Anhedonia ((2013)
Keine Gitarren verwendet das
quer über Russland rekrutierte und in Moskau lokalisierte Projekt
Thy Grave, allein mit Bass und Noise erzeugen die Musiker ihre
Version von Doom, Sludge und Stoner. Basis ist eine dem Punk
entliehene Herangehensweise an Musik, rotzig, trotzig, stur,
eigensinnig. Verwunderlich ist, dass Thy Grave dabei in ihre dunkel
fuzzenden Songs auch noch grandiose Melodien einweben. Ansonsten
regieren Poltern, Rumschreien, Langsamkeit, wildes Preschen. Die
finnische Band loinen ist hier involviert, nicht zum einzigen Mal,
denn außer diesem Album gibt es noch zwei Split-CDs und eine EP. Und
wenn der Sound noch so depressiv-fies ist, man hat den Eindruck, dass
die Band am Ende lachen muss.
Megalith
Levitation – Acid Doom Rites (2019)
Die jüngste
Veröffentlichung auf diesem Label trägt die musikalische
Ausrichtung grob im Titel: „Acid Doom Rites“ versprechen Megalith
Levitation aus Челябинск (Tscheljabinsk) auf ihrem Debüt,
und genau das liefern sie auch auf vier Tracks in fast 80 Minuten.
Die Band verlegt sich so sehr auf Monotonie und Langsamkeit, dass man
den Eindruck bekommt, nicht voranzukommen. Dabei bleiben die Sounds
klar, wenn auch tief gestimmt. Es dauert eine ganze Weile, bis ein
dritter, vierter Ton hinzukommt, sich die repetetive Melodie
erweitert, eine Stimme einsetzt, der Schlagzeuger einen Zwischentakt
findet, die Gitarren ein zweites Riff anstimmen, eventuell sogar
einmal eine Melodie. Und nach einer Dreiviertelstunde fühlt man sich
sogar zum Headbangen aufgerufen. Der Titel hält, was er verspricht!