Von Matthias Bosenick (25.10.2022)
Ein weiteres Spezial zum fabelhaften Label addicted/noname aus Moskau! Dieses Mal mit: dem Mini-Album „Homebound“ von Dehyper, dem Album „Это есть то“ von Kshettra und dem Album „Нет вечных истин“ von Ad Nihil – sowie einem Rückblick auf die „Sweet Leaf Worshippers From USSR“-Compilation, mit der vor zehn Jahren die wunderbare Arbeit von Anton Kitaev, Oleg Dynya und Ivan Bredolog begann und damit das namenlose Label aus Moskau seinen Anfang nahm. Herzlichen Glückwunsch, Freunde! С днем рождения друзья!
Dehyper – Homebound (2022)
Die Band aus Moskau schrieb die Songs für das Mini-Album „Homebound“ noch vor dem Krieg, aber Anton Kitaev vom Label meint: „Heute klingt es relevanter als vor einem Jahr.“ Das bestätigen die Interview-Snippets, die die Band als Info mitschickt: „Es ist kein Geheimnis, dass wir in einem Land mit vielen sozialen und politischen Problemen leben. Und manchmal ist es schwierig, sich dabei nicht hilflos zu fühlen. Du kannst nur damit weitermachen. Und wütend werden. ‚Homeland‘ ist eine Reflexion darüber“, sagt Sänger Alexey Iordanskiy. Gitarrist Vladimir Morozow ergänzt: „Die erste Zeile – ‚My homeland is on fire‘ – definiert für mich das ganze Lied.“
Mit Vladimir stellt Boris Obinyakov das Gitarristengespann, um einen frischen Wunsch der Band umzusetzen: Twin-Gitarren-Soli. Bass und Synthies spielt Matvey Petukhov, Schlagzeug Simon Marsh. Im weitesten Sinne ist das, was Dehyper machen, Alternative Rock, doch fasst dieser Begriff nicht weit genug: Die fünf sind nicht so simpel und straight, auch wenn man etwas Grunge heraushört, sie experimentieren gern, streuen heavy Riffs, experimentelle Fills und selten auch mal elektronisches Pluckern ein, mischen unerwartete Sequenzen unter ihre Songs, schlagen Haken. Die Gesangsstimme ist unerwartet hoch, man hätte ein rauheres, tieferes Brummen angenommen, das fügt dem Rock etwas Milde hinzu. Und sie spielen den Trumpf aus, zu fünft zu sein: Jeder der Musiker kann was auf seinem Instrument, jeder bekommt nicht nur seine Momente, sondern bereichert jeden Song quasi nebenbei mit seinen Expertisen, und das ohne Kackenhauerei. Der Sound, der sich daraus ergibt, ist warm, das Quintett ist zwar wütend, aber nicht desillusioniert; die Hoffnung auf ein besseres „Homeland“ schwingt immer mit.
Seit dem Debüt „Grape“ aus dem Jahr 2017 erfuhr Dehyper einige personelle Veränderungen: Damals war die Band noch ein Quartett, ebenso beim zweiten Album „Dying Youth“ im Jahr 2020, und über diese Stationen wechselten Schlagzeuger und Bassist und der zweite Gitarrist kam zur neuen EP hinzu. Eine Bereicherung: In nur vier Songs und kaum mehr als einer Viertelstunde Musik sind Dehyper so vielseitig wie andere kaum auf Albumlänge.
Kshettra – Это есть то (2022)
Das Ensemble – eigentlich Duo – Кшеттра aus Schelesnodoroschny (Железнодоро́жный) selbst übersetzt den Albumtitel mit „Thou Art That“. Darauf generiert das Projekt die wildestmöglichen Genremischungen. Einmal kombinieren Kshettra Progrock und Free Jazz, wie es sich gehört, das passt beides sehr gut zusammen: verschachtelte Drums, haufenweise Saxophone, im Hintergrund funky Gitarren, Melodien zwischen Harmonie und Disharmonie, da schimmern Morphine durch. Einmal jammen die Musiker um einen chilligen synthetischen Drumbeat herum mit jazzigen Motiven, man wähnt sich nachts in einer noch nicht ganz verlassenen Bar irgendwo in einer Großstadt. Sofern nicht die virtuose Jazzigkeit vieler Blasinstrumente vorherrscht, ist der Sound reduziert, die Tracks sind trotzdem komplex, tragen unendlich viele Elemente in sich, hintergründig, versiert, dunkel.
Dunkelheit liegt hier auch unbesungen in vielen Themen, so verarbeitet Boris „Borya“ Ghas den Tod seines Bruders in einem Track, auch die Pandemie findet Niederschlag in einigen Stücken. Die sind zwar instrumental gehalten, in zwei Fällen indes rezitiert Mila Kiseleva Gedichte von Rumi und Boris Ghas. Mit ihrer kühlen, fast aggressiven Art lässt sie einem das Blut in den Adern gefrieren: Wer so spricht, ist gefährlich. Kommt gut! Und trotz aller Dunkelheit liegt vielen Sequenzen auch ein Hoffnungsschimmer inne, „Это есть то“ ist keine Gruftplatte, dafür ist sie auch in ihrer Reduziertheit viel zu agil und vor allem zu jazzig.
Interessanterweise handelt es sich bei Kshettra nicht um eine Band im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr um ein zum Ensemble aufgepepptes Duo, bei dem ein Dutzend Musiker nach Bedarf einspringen. Daher sind nicht alle an allen Tracks beteiligt, und alle sind folgende: die Bandköpfe Boris Ghas (Bass, halbakustische Gitarre, Saxophon, Samples) und Viktor Tikhonov (akustisches und elektronisches Schlagzeug, Percussion, halbakustische und akustische Gitarren, Synthesizer und Sequencer, Metallophon, Saxophon) sowie Gosha Rodin (French Horn mit Effekten, Delay-Noises, halbakustische Gitarre), Nikolai Samarin (Synthesizer, Bass), Mila Kiseleva (Gedichtrezitation), Nikita Gabdullin (E-Gitarre), Ilya Rosenblat (Tenorsaxophon), Alexander Novikov (Baritonsaxophon), Kirill Olkhovsky (Violine), Nikita Bobrov (zweites Schlagzeug), Olga Larionova (Operngesang). Nach „<i>“ und „Five Mothers“ ist dies das dritte Album von Kshettra, dazu gibt es drei EPs und ein Live-Album.
Ad Nihil – Нет вечных истин (2022)
„Keine ewige Wahrheit“ versprechen Ad Nihil aus Wyksa (Вы́кса) auf ihrem neuen Album „Нет вечных истин“, und der Abgrund, den das Sextett darin auftut, ist tief, sehr sehr tief. Ad Nihil blicken nicht in den Abgrund, sondern aus dem Abgrund heraus, die Menschen oben am Rande fragend, wie es zu solch einer Katastrophe überhaupt kommen konnte. Musikalisch drücken Ad Nihil dies vorrangig mit Doom aus, zu dem zweistimmiges growlendes Geschrei ertönt. Und ein Didgeridoo.
Doch bleiben Ad Nihil nicht in nur einer Stilecke, die sechs definieren ihren Doom frei, was ja schon der Gesang unterstreicht. Wenn im achtzehnminütigen Opener mittendrin das Tempo anzieht, bekommt der Track die Anmutung von Punkrock, dem Hardcore nahe, oder auch wie ihn seinerzeit The Exploited mit dem Metal kombinierten. Wie überhaupt die tiefdunklen Spielarten des Heavy Metal in dieses Album Einzug finden, brutaler Death Metal, hyperschneller Black Metal, dreckig kriechender Sludge Metal. Auf der anderen Seite lässt die Band auch Raum für Leere, schlendert hin zum chilligen Post Metal, zum düsteren Gothic, zum verspielten Progrock, schleppt spärliche Akkorde mit sich herum, lässt die Dunkelheit atmen, ist für aufgeschlossene Hörende sogar entspannend, bis dann das brutale Nichts wieder hereinbröckelt. Ja, das Ende der Zivilisation ist nach Ad Nihil nicht mehr nur nahe – es liegt bereits hinter uns. Wenn so etwas wie „Нет вечных истин“ indes der Soundtrack dazu ist, ist das sogar ein Gewinn. Viva Abyss!
Interessant ist hier natürlich der Einsatz der Instrumente, denn Ad Nihil arbeiten mit nur einer Gitarre, dafür aber mit zwei Bässen – und mit einem Didgeridoo. Kein Wunder also, dass hier Tiefe und Dunkelheit so ausgeprägt dominieren. Überdies haben hier die Stimmungen Vorrang vor den Melodien, auch wenn sich solche dezent in diesem akustischen Untergang verstecken. Die Band besteht aus: Schlagzeuger Kirill Myrk, den Bassisten Alexander Skog und Maksim Hoekken, Gitarrist Shamil Blaengr, Sänger und Didgeridoospieler Alexey Froll und Sänger Sergei Vargrim. Seit 2015 mahnt das Sextett vom Ende der Welt, und zwar aus der Perspektive dieses Endes. Nach einigen Singles und Split-Alben ist dies das zweite Album der Band. Sollten die sechs so geil weitermachen, wäre das ein weiterer Grund, sich doch noch um den Erhalt der Zivilisation zu mühen.
Sweet Leaf Worshippers From USSR (2011)
Mit dieser Compilation fing alles an: Auslöser war eine Zusammenstellung für das erste Fanzine des offiziellen russischen Ozzy-Osborne-Fanclubs. Anton Kitaev, Oleg Dynya und Ivan Bredolog trugen die Beiträge zusammen, die Ozzy persönlich aus einer Liste von Optionen ausgewählt hatte. Weitere Tracks zu dieser Sammlung erhielt Anton von Freunden sowie nachdem er im Forum stonerrock.ru einen Aufruf gestartet hatte. Im Januar 2012 ging die Compilation dann online und als CDr in den Vertrieb – und das namenlose Label war aus der Taufe gehoben. Heißt im Jahre 2022: Alles Gute zum zehnten Geburtstag, ihr drei! Danke für eure Arbeit, diese großartige Musik aus allen Weltengegenden zusammenzutragen und besonders die Bands aus Russland und umliegenden Gegenden der Welt bekannt zu machen!
Lustiges Detail: Diese Sammlung erhielt dem Thema entsprechend die Katalognummer 666, von der aus das Label fortan seine Veröffentlichungen weiterzählte. Die Musik auf „Sweet Leaf Worshippers“ speist sich nicht ausschließlich aus Black-Sabbath-Epigonen, wenngleich dunkel und tief gestimmte Gitarren den Löwenanteil ausmachen: Es gibt Post-Grunge (wenn eine Band schon Sex Type Thing heißt, also wie ein Song von den Stone Temple Pilots), Blues, dreckiger Rock’n’Roll, fuzzy Garagerock, Stoner, Psychedelic, Death Metal, Djent, freakiger Frickelkram – also bereits die Basis für das folgende Labelprogramm. Und gute Laune, man hört den Beitragenden an, dass sie jede Menge Spaß an ihrer Mucke haben. Die dabei auch noch echt mal geil ist.
Die Bands und Songs (die letzten beiden von Чёрный Шницель sind eher ein Scherz und nicht in jeder Version enthalten):
01 Lowriderz – Fly
02 Stone Cold Boys – Easy Rider
03 Sex Type Thing – Long Way Home Blues (Acoustic)
04 The Re-Stoned – Mountain Giant
05 Maskkot – Genius (featuring Rudiger)
06 Million Of Years – Help’s Coming
07 Gift Of Madness – Peace And Quiet
08 Lowriderz – Low Rent (Demo, 320)
09 Stone Cold Boys – Just A Fish
10 Sex Type Thing – Freeway Ride
11 The Re-Stoned – Run
12 Maskkot – Waste (featuring Rudiger)
13 Million Of Years – Burning Out
14 Gift Of Madness – Manifestation
15 Rock’n’Raw Bottled Band & Lowriderz – Holy Diver (Dio Cover)
16 Stone Cold Boys – (())
17 Lowriderz – Empty Lies (C3-H5 Amphetamine Remix) (224)
18 Чёрный Шницель – Пай-мальчик
19 Чёрный Шницель – Финский Шпион