Spezial: Addicted Label aus Moskau, Teil 17

Von Matthias Bosenick (23.05.2025)

Unsere Moskauer Freunde sind wieder aktiv! Fünf neue Veröffentlichungen gibt’s auf dem Label addicted/noname: „Bibliotheka XXXX“ von LibrёFnørd soll Impro-Metal sein, ist aber eher improvisierter Jazz. Mit „Geo Murmuratio“ kredenzt Starlit Tales Ambient-Relax-Musik zu literarischen Reisegeschichten. „Смерть подождет“ von Zatvor ist dunkel-gruftiger, epischer, rauher Doom. Die Band Petyaev-Petyaev (Петяев-Петяев) macht auf „Отсутствие“ wilden Free Jazz. Noch wilder ist „Вкус жареных гвоздей“ vom aus drei Bands bestehenden Projekt Pizzdol EB – ein akustischer Schlag aus Free Jazz, Noisecore, Hip Hop und Pop mitten in die Fresse.

LibrёFnørd – Bibliotheka XXXX (2025)

Das Vier-Personen-Projekt LibrёFnørd improvisiert Heavy Metal. Sagt es zumindest. Hört man das Debüt-Album „Bibliotheka XXXX“, stimmt man dem nur bedingt zu – und verweist vielmehr auf den Jazz. Oder andere Kunstmusik, vergleichbar etwa mit der von Diamanda Galás, nicht nur, sobald die Sängerin wie jene zu schreien beginnt. Der Titel des Albums bezieht sich auf den Aufnahmeort: Dieses ist nämlich ein Mitschnitt aus der Bibliothek des Moscow Museum Of Modern Art. Miteinander improvisieren geht live wohl am besten.

Nun gehört zu vielen Metal-Spielarten eine gewisse Sounddichte, und die erreicht das Projekt hier eher selten. Also miteinander grooven, brettern, riffen und rocken, das ist improvisiert etwas schwierig. Der Auftakt „Obscurum Per Obscurius. Introductio“ legt zwar noch andeutungsweise eine solche Fährte, doch bestehen die nächsten beiden Tracks aus Experimenten ohne Rhythmus, Struktur, Melodie; hier agieren die Musizierenden und die Singende komplett frei, wie miteinander isoliert, werfen kunstvoll Bröckchen und Stückchen in den Raum, die nebeneinander liegen bleiben und wieder verschwinden. Erst „Psyche In Scorpio. Casus No. …“ ist wieder als herkömmliche Musik aufzufassen, mit einem schleppenden, sich zwischenzeitig steigernden Rhythmus, einer gnargelnden Gitarre, einem quengelnden Synthie und einer predigenden Stimme.

Kernstück ist „Chronicles Of A Lost Planet“, das mit Glockenspiel und der inzwischen vertrauten experimentellen Anordnung der Instrumente beginnt, zu der die Sängerin eine unüberblickbare Vielzahl an vokalen Erscheinungsformen darbietet. Erst nach einer Weile schält sich ein Rhythmus heraus, dezent geklopft, zu dem die übrigen Mitspielenden ihr Instrumentarium strukturiert gruppieren, darunter auch mal eine Orgel. Die fast zehn Minuten Länge nimmt man gar nicht wahr. „Astro Metal Inhale. Instructio“ ist tatsächlich Atem, kombiniert mit Untertongesang und leise quietschenden Instrumenten von Leuten, die bereits mit den Hufen scharren, wann sie denn endlich dazustoßen können, und da das Startsignal ausbleibt, mogeln sie sich still und heimlich in den Track hinein und machen ihn zu nachtwandlerisch-alptraumhafter Angstmusik. Das „Post Scriptum“ beginnt als Ambient-Track mit Gitarrenfeedback und Stimmspielereien, alsbald entwickelt sich ein Krautrock-Beat heraus.

Die vier Beteiligten sind in der Moskauer Impro-Szene bekannte bunte Hunde, mindestens von Gitarrist Anton Efimov war auf KrautNick bereits zu lesen: Er ist Teil des Projektes Der Finger, aber auch Musiker bei Disen Gage, The Eggg und Unicellular Music, hier unter vielen anderen mit Damo Suzuki. Der ausdrucksstarke Gesang kommt von Tatyana Izitova, die ebenfalls bei Disen Gage schon mitmachte, zudem bei dem Orchester Insomnia Improvisers sowie weiteren Projekten aus Free Jazz und Argentinischem Tango. Die Keyboards und gelegentliche männliche Stimmbeiträge kommen von Feodor Amirov, der als klassischer Pianist und Free-Jazzer seit über 20 Jahren in der Szene bekannt ist. Das Schlagzeug bedient Peter Ototsky, andernorts aktiv bei Gruppen wie Baritone Domination, Drumazhur, seinem Ototsky Quartet, Radost‘, Visokosnyi Jazz, Lenina Paket und weiteren. Vor diesem Album veröffentlichte das Quartett bisher lediglich die EP „Chagall 345“.

Hier dominiert schon in den Biografien der Jazz. Der ist auch in dieser Aufnahme weit präsenter, neben Avantgarde und Experiment. Aber Metal? Eher nicht. Wer aber über dieses Etikett auf das Album aufmerksam wird, bekommt sein Spektrum erweitert.

Starlit Tales – Geo Murmuratio (2025)

Auf eine merkwürdige Art gelingt es dem Projekt Starlit Tales, eine positive Stimmung zu erzeugen. Auf dem Debütalbum „Geo Murmuratio“ ist eine Art Ambient zu hören, aber mit Beats, und dazu mit schönen Melodien, die nicht dem Pop zuzuordnen sind, sich eben ihrerseits dichter am Ambient bewegen, an Entspannungsmusik, an Traumreisen, und da ist man schon mitten im Thema.

Denn Schlagzeuger Viktor Tikhonov, ansonsten bei Bands wie Detieti und Kshettra, generiert hier im Verbund mit Kontrabassist Nikolai Samarin von IWKC und Gaststimme Arina Salevich, die beide jeweils einmal zum Einsatz kommen, also doch quasi solo, Soundtracks zu Büchern, und zwar zu solchen, die Reisegeschichten erzählen. Entsprechend tragen diese chilligen, elektronisch dominierten und mit Samples angereicherten Musikstücke den Hauch der Ferne in sich, klingen mal nach fernöstlichem Urwald („Flocking Without End“), mal nach von Warp-Musikern generiertem spanischem Flamenco („Albatross“) und ansonsten einfach nur nach Unterwegssein, also nicht nach Aufbruch oder Ankunft, sondern nach dem Vorgang des Reisens, nach Entdeckung, nach Beobachtung, danach, den fremden Ort auf sich wirken und weniger fremd werden zu lassen.

Dabei geht Tikhonov behutsam vor, eben so, wie man sich als Reisender in der Fremde auch verhalten sollte. Seine Sounds sind kräftig, aber nicht harsch, rhythmisch, aber nicht auf die Zwölf, auch wenn er sein Schlagzeug mal gegen IDM-Beats austauscht oder es jazzig die Treppe herunterpurzeln lässt („Whale Navigation“). Das „Transparent Awakening“ am Schluss erfolgt mit der Stimme von Arina Salevich, die den Kopfnicker-Track bereichert, mit dem Tikhonov die Hörenden aus seinen Büchern wieder herausholt. Inspirieren ließ er sich übrigens von Autoren wie Bernard Moitessier, Sir Christian Bonington oder Ernest Shackleton.

Zatvor – Смерть подождет (2025)

„Смерть подождет“, „Der Tod wird warten“: Mit diesem Titel dürfte ungefähr zu ahnen sein, wie sich die Musik der Band Zatvor aus Kursk ausnimmt. Hier bekommt man Doom in schwärzester Ausprägung, drei überlange Songs lang. Mit unglaublich wuchtigen Drums legt „Хозяйка ритуальных услуг“ vor, mit unterschwelligen, aber brutalen Gitarren und mit epischen dunklen Flächen, zu denen eine wehklagende weibliche Stimme anhebt. Dieses düstere Brett über eine „Bestattungsbegleiterin“ halten die vier Musizierenden zwölfeinhalb Minuten lang durch, dann folgen fast 15 Minuten „Охотник“, „Jäger“, ebenso dunkel-doomig, aber mit dem melodiöseren Gesang zunächst in Richtung Gothic schielend. Darüber legt die Band dann harschere Sounds, die die Musik enorm anrauhen und bald in höheren Tönen unter Spannung setzen.

Die Band spielt sich in einen Rausch, frei von Konventionen und Strukturen, sie rollt die Tracks jeweils vor den Hörenden aus, generiert Atmosphären und Stimmungen, und paradoxerweise macht dieser düstere Doom auch noch glücklich, so gut gelungen ist er. Im nicht einmal zehnminütigen Titeltrack spielen die Musizierenden all ihre Fähigkeiten nochmal eindrucksvoll aus, das Stück beginnt als Ambient, in den sich die Instrumente hineindoomen, die Stimmung ist getragen und ernüchtert, der Gesang wie mutlos, nicht einmal mehr klagend, und doch birgt die Musik Filigranität, Detailreichtum, sogar Halt inmitten des sich dahinschleppenden Tracks. Der sich im Verlauf noch mächtig aufbäumt, Elemente aus Post Rock und Black Metal hinzufügt und das leider viel zu kurze Album perfekt episch abrundet. Aber lieber kurz und geil als lang und weilig.

Erstaunlich ist, dass es die Band seit fast 30 Jahren gibt, dass „Смерть подождет“ aber erst das zweite Album von Zatvor ist. 1996 gegründet, veröffentlichte die Band ihr Debüt „Ключ земли“, das aus nur einem 50minütigen Track besteht, erst 2018. Und eben erst jetzt den Nachfolger. Die Band besteht auf diesem Album aus Sängerin und Keyboarderin Katya Sumina, Gitarrist Denis Kolesnikov, Bassist Anton Eremin und Schlagzeuger Kirill Kiryukhin.

Petyaev-Petyaev (Петяев-Петяев) – Отсутствие (2025)

Von „Отсутствие“, „Abwesenheit“, kann hier keine Rede sein: Die beiden Petyaev-Brüder Peter und Pavel sind mit ihrem Ensemble auf dem genannten Album sowas von präsent. Abwesend ist hier Sängerin Оксана Тарунтаева, die ansonsten auf den Alben dieser Freejazzgruppe zu hören ist, und diesen Umstand nutzten die Musiker, um deren Platz mit ihren Instrumenten zu besetzen, bis sie zur Band zurückkehrt. Entsprechend rücken hier allerlei Blasinstrumente in den Vordergrund und spielen sich so frei, wie es das Genre erfordert, die Seele aus dem Leib.

Jazz ist natürlich eine ernsthafte Angelegenheit, aber man kommt nicht umhin, dem Ensemble hier zu unterstellen, sich so manchen Scherz erlaubt zu haben. Es sind nur drei Blasinstrumentalisten dabei, aber die sind dazu in der Lage, Pandämonien zu entfachen, Chaos zu erschaffen, ein amtliches Durcheinander obwalten zu lassen, dass es klingt wie die Testabteilung einer Instrumentenfabrik. Das vollführen sie nicht permanent, sondern dezidiert, und spielen ansonsten so, dass die fünf Tracks auf „Отсутствие“ eindeutig dem Free Jazz zuzuordnen sind, also frei und nahe an der Improvisation, begleitet von Klavier oder Synthie, Gitarre und Bass zu einem Schlagzeug, das stoisch den Takt hält, den Tracks – bis auf dem vierten – eine feste Form gibt und damit den Hörenden eine Orientierungshilfe. Und überhaupt der Musik eine Nachvollziehbarkeit, die das Freie umso genießbarer erscheinen lässt.

Solche humorvollen Passagen, die etwa an die Horns Of Dilemma denken lassen, finden sich am Anfang des Openers „Расплескалось“, „Bespritzt“ (mit Wasser!), und in der Mitte von „Два изгиба“, „Zwei Kurven“, in denen die Saxophone schnattern wie Wasservögel am Teich. Im zwölfminütigen Mittelteil „Убить баронессу“, „Töte die Baronin“, drehen alle sowas von durch und generieren ein gigantisches Chaos, bei dem man nicht anders kann als laut losprusten. Und dieses Chaos, das zieht die Band durch das gesamte Album, immer wieder drehen die Musiker auf, geraten ins gehörige Durcheinander und finden doch immer ausreichend Zurückhaltung, um nie gänzlich unhörbar zu werden. Obschon etwa „Я за авангард болею“, „Ich drücke der Avantgarde die Daumen“, seinem Titel mit Stressmusik gerecht wird. Für den abschließenden Titeltrack kehren die Musiker zum rhythmisch grundierten Free Jazz zurück.

Zur Band gehören neben den beiden namensgebenden Brüdern, Peter Petyaev (Пётр Петяев) am Saxophon und Pavel Petyaev (Павел Петяев) an der Gitarre, folgende Künstler: Ivan Bashilov (Иван Башилов) an Bass und Gitarre, Piotr Talalai (Пётр Талалай) am Schlagzeug, Victor Konovalov (Виктор Коновалов) an Klarinette und Trompete, Maxim Bezhenov am zweiten Saxophon und Slava Burlakov an den Keyboards. „Отсутствие“ ist das achte Album seit Bandgründung 2016.

Pizzdolf EB – Вкус жареных гвоздей (2025)

Das ist brutal. „Вкус жареных гвоздей“, „Der Geschmack von gebratenen Nägeln“, beginnt mit extrem speedigem Free Jazz. Das ist strukturierter Lärm, den das Ensemble hier mit „Ребята, меня взломали!“, „Leute, ich wurde gehackt!“, loslässt, mit umeinanderkreisenden Saxophonen zu hyperschnellem Schlagzeug und entfesseltem Gebrüll. Also direkt in die Fresse. Diese Brutalität und Brachialität nimmt das Projekt gleich in das nächste Stück „Айболит“, „Aibolit“, hinüber und kommt erst in der Mitte des Dreizehnminüters halbwegs zur Ruhe, wenn dann nur noch etwas Vinyl-Scratchen zum freundlichen Schlagzeug zu hören ist, aber keine Angst, das Monster brüllt schon noch wieder los.

Pizzdolf EB nennt sich diese Zusammenkunft von Mitgliedern dreier Bands, die hier ihre Namen zusammenschieben: Die Pissdeads sind eine Noisecore-Band, Rudolf (Рудольф) machen experimentellen Post-Hardcore mit Hip Hop und IWKC (in Klammern EBB) sind inzwischen beinahe Pop, wenn auch abermals experimenteller. Also schon mal eine Kombination, von der man niemals ausgegangen wäre, dass sie überhaupt existieren könnte. Aber sie existiert und sie bringt Schabernack hervor, der zwischen Saxophon-Noisecore à la Monno und verunsichernder Kontemplation changiert. Irgendwas scheint die Leute hier anzutreiben, ein Ventil zu suchen, um mal Dampf abzulassen.

Immer wieder baut das Ensemble nämlich Absurditäten in die Lärmwände ein. Scratches gibt’s immer wieder, der Mittelteil des Achtzehnminüters „Крабе и шмеле“, „Die Krabbe und die Hummel“, hat sogar etwas von Hip Hop – und am Ende ganz kurz Reggae. In „Колдун-аутист“, „Autistischer Zauberer“, gibt’s tiefe Growls wie aus einem Horror-Hörspiel und Speed Metal im scratchy Free Jazz. „Da Flava“ ist ein chilliger Reggae mit obskuren Sprengseln, einem Trompetensolo etwa. Der „Moscow Undead Club“ ist ein mit ähnlichen Mitteln gepeinigter Swing, der einem Foetus zur Ehre gereichen würde. Das Quasi-Titelstück „Жареные гвозди“, „Gebratene Nägel“, und der Rauswerfer „Карнавал“, „Karneval“, entsprechen wieder den inzwischen vertrauten Noiseausbrüchen.

Das sind satte 82 Minuten Lärm, verteilt auf nur acht Stücke und nur gelegentlich unterbrochen, dafür aber mit schwindelerregenden Details garniert. Man hört dem Trubel an, dass es den Musikern fetteste Laune gemacht haben muss, diesen Schabernack einzubrüllen. Und die gehen damit auch noch auf Tour, mit der Gazelle Of Death, einem dort berühmten „Rock Wagon“. Verrückt!

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