Sorry We Missed You – Ken Loach – UK/B/F 2019

Von Matthias Bosenick (05.02.2020)

Da hat sich der linke Antikapitalist Ken Loach aber etwas vorgenommen: In seinem neuen Film „Sorry We Missed You“ versucht er den Rundumschlag gegen alles, was ihn an der Moderne im Prä-Brexit-England stört, von Ausbeuterjobs über wachsende Gewaltbereitschaft, Pflegenotstand und miese Zukunftsaussichten bis hin zum Gesundheitssystem. Eine zarte Lösung bietet er zwar an, aber letztlich absolut keine Hoffnung. Der vielzitierte kleine Mann hat in Loachs Augen keine Chance, in diesem System zu bestehen, weder mit Zynismus noch mit schierer Willenskraft. Schwere Kost, kein Kinovergnügen, aber genau deshalb sehr wichtig.

Es ist immerzu grau. Keine Sonne dringt durch die Wolken, kaum Farbe bereichert den Alltag. So trist wie die Bilder ist auch der Inhalt: Der hochverschuldete Handwerker Ricky Turner versucht, als Paketzusteller seine Familie zu ernähren. Ehefrau Abby reibt sich in der ambulanten Pflege auf, Sohn Sebastian wird in der Schule auffällig und Nachwuchs Liza Jane trägt die Fahne der akademischen Hoffnung. Da Ricky semiselbständig als Franchise-Nehmer für den Paketdienst unterwegs ist, kostet ihn ein freier Tag gleich horrende Summen, und freie Tage braucht er nach anfänglichen Erfolgsgefühlen bald: Sebastian wird beim Ladendiebstahl erwischt – und er selbst für die begehrten Waren in seinem Wagen krankenhausreif geschlagen.

Mehr Handlung hat der Film auch nicht, er bildet eher anekdotisch das Leben in Newcastle Upon Tyne ab, laut Info (im Film nicht so herausgearbeitet) nach der Weltwirtschaftskrise 2008. Ricky begegnet auf seinen 14-Stunden-Touren an sechs Tagen pro Woche Fans anderer Fußballmannschaften, ungnädigen Politessen sowie ganz viel Armut, Abby kümmert sich herzenswarm um altgewordene Menschen, die sich ob ihrer Hilflosigkeit ihrer Würde verlustig sehen, Sebastian mausert sich in seiner Peergroup zum Graffitikünstler und Liza Jane versucht, altersungemäß die auseinanderflatternden familiären Fäden beisammenzuhalten. All dies nutzt Loach, um anzuklagen: menschenverachtende Arbeitsbedingungen sowohl bei den Lieferdiensten als auch in der Pflege, versagende Schulsysteme, überforderte Krankenhäuser, grassierende Armut, ungerecht verteilten Reichtum.

Zwar gönnt Loach seinen Figuren auch Momente der Harmonie, doch dominieren Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Verzweiflung und wachsende Aggression. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer wird“, sagt Ricky eines Abends im Bett zu Abby. Je weiter der Film voranschreitet, desto größer werden die systembedingten Katastrophen, und lediglich eine kleine Zuversicht bekommen die Turners von einem Polizisten empfohlen: Familie sei das höchste Gut, auf das es sich zu besinnen gelte. An dieser Aufgabe wollen die Turners arbeiten, trotz aller widrigen Umstände und gegen jede Vernunft. Deshalb, das sei hier gespoilert, gibt es auch kein Ende. Denn nichts von dem hilft, was Loach seinen Figuren in anderen Filmen zubilligt: Widerstand, Zynismus, Eigenwirksamkeit – entweder findet nichts davon statt oder hat lediglich Verschlechterungen zur Folge. Weitermachen, das sagt uns der Film, ist das einzige, was möglich ist.

Trotz des Graus und des Grauens und der eher dokumentarischen Bilder gönnt sich Loach zwischendurch immer mal wieder ästhetische Stadtansichten und beinahe grafische Bildkompositionen. Musik gibt es kaum zu hören, lediglich sporadisch setzt ein Score ein. Dadurch wirken die Geschehnisse noch unmittelbarer. Auch als Nicht-Engländer fällt es leicht, sich in diesen Film hineinzufinden – leider. Spaß indes hat man daran nicht, dafür steckt Loach viel zu viele Elemente in diesen Film, an denen er Elend festmacht. Das raubt dem Zuschauer und den Figuren den Atem.

Der Titel „Sorry We Missed You“ bezieht sich übrigens auf die Überschrift auf den Benachrichtigungskarten, die Ricky abwesenden Paketempfängern in den Briefkasten zu werfen hat. „Schade, Sie verpasst zu haben“, quasi.