Von
Matthias Bosenick (05.02.2020)
Da hat sich der linke
Antikapitalist Ken Loach aber etwas vorgenommen: In seinem neuen Film
„Sorry We Missed You“ versucht er den Rundumschlag gegen alles,
was ihn an der Moderne im Prä-Brexit-England stört, von
Ausbeuterjobs über wachsende Gewaltbereitschaft, Pflegenotstand und
miese Zukunftsaussichten bis hin zum Gesundheitssystem. Eine zarte
Lösung bietet er zwar an, aber letztlich absolut keine Hoffnung. Der
vielzitierte kleine Mann hat in Loachs Augen keine Chance, in diesem
System zu bestehen, weder mit Zynismus noch mit schierer
Willenskraft. Schwere Kost, kein Kinovergnügen, aber genau deshalb
sehr wichtig.
Es
ist immerzu grau. Keine Sonne dringt durch die Wolken, kaum Farbe
bereichert den Alltag. So trist wie die Bilder ist auch der Inhalt:
Der hochverschuldete Handwerker Ricky Turner versucht, als
Paketzusteller seine Familie zu ernähren. Ehefrau Abby reibt sich in
der ambulanten Pflege auf, Sohn Sebastian wird in der Schule
auffällig und Nachwuchs Liza Jane trägt die Fahne der akademischen
Hoffnung. Da Ricky semiselbständig als Franchise-Nehmer für den
Paketdienst unterwegs ist, kostet ihn ein freier Tag gleich horrende
Summen, und freie Tage braucht er nach anfänglichen Erfolgsgefühlen
bald: Sebastian wird beim Ladendiebstahl erwischt – und er selbst
für die begehrten Waren in seinem Wagen krankenhausreif
geschlagen.
Mehr Handlung hat der Film auch nicht, er
bildet eher anekdotisch das Leben in Newcastle Upon Tyne ab, laut
Info (im Film nicht so herausgearbeitet) nach der
Weltwirtschaftskrise 2008. Ricky begegnet auf seinen
14-Stunden-Touren an sechs Tagen pro Woche Fans anderer
Fußballmannschaften, ungnädigen Politessen sowie ganz viel Armut,
Abby kümmert sich herzenswarm um altgewordene Menschen, die sich ob
ihrer Hilflosigkeit ihrer Würde verlustig sehen, Sebastian mausert
sich in seiner Peergroup zum Graffitikünstler und Liza Jane
versucht, altersungemäß die auseinanderflatternden familiären
Fäden beisammenzuhalten. All dies nutzt Loach, um anzuklagen:
menschenverachtende Arbeitsbedingungen sowohl bei den Lieferdiensten
als auch in der Pflege, versagende Schulsysteme, überforderte
Krankenhäuser, grassierende Armut, ungerecht verteilten Reichtum.
Zwar gönnt Loach seinen Figuren auch Momente der
Harmonie, doch dominieren Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit,
Verzweiflung und wachsende Aggression. „Ich hätte nicht gedacht,
dass es so schwer wird“, sagt Ricky eines Abends im Bett zu Abby.
Je weiter der Film voranschreitet, desto größer werden die
systembedingten Katastrophen, und lediglich eine kleine Zuversicht
bekommen die Turners von einem Polizisten empfohlen: Familie sei das
höchste Gut, auf das es sich zu besinnen gelte. An dieser Aufgabe
wollen die Turners arbeiten, trotz aller widrigen Umstände und gegen
jede Vernunft. Deshalb, das sei hier gespoilert, gibt es auch kein
Ende. Denn nichts von dem hilft, was Loach seinen Figuren in anderen
Filmen zubilligt: Widerstand, Zynismus, Eigenwirksamkeit – entweder
findet nichts davon statt oder hat lediglich Verschlechterungen zur
Folge. Weitermachen, das sagt uns der Film, ist das einzige, was
möglich ist.
Trotz des Graus und des Grauens und der eher
dokumentarischen Bilder gönnt sich Loach zwischendurch immer mal
wieder ästhetische Stadtansichten und beinahe grafische
Bildkompositionen. Musik gibt es kaum zu hören, lediglich sporadisch
setzt ein Score ein. Dadurch wirken die Geschehnisse noch
unmittelbarer. Auch als Nicht-Engländer fällt es leicht, sich in
diesen Film hineinzufinden – leider. Spaß indes hat man daran
nicht, dafür steckt Loach viel zu viele Elemente in diesen Film, an
denen er Elend festmacht. Das raubt dem Zuschauer und den Figuren den
Atem.
Der Titel „Sorry We Missed You“ bezieht sich
übrigens auf die Überschrift auf den Benachrichtigungskarten, die
Ricky abwesenden Paketempfängern in den Briefkasten zu werfen hat.
„Schade, Sie verpasst zu haben“, quasi.