Von Matthias Bosenick (23.11.2023)
Welche Aussage ist besser: „Live klingt es exakt wie auf dem Album“ oder „Live ist es komplett anders als das Album“? Das hängt von der Vorlage ab: Wenn Yo La Tengo oder Sonic Youth ihre komplizierten Lärmsounds live werkgenau und verlustfrei reproduziert bekommen, kann man nur staunen. Wenn dies bei The Faint geschieht, glaubt man an Vollplayback. Und der Nutzen, einen Liveauftritt als Konserve zu Hause zu haben? Ist eigentlich nur gegeben, wenn es einen künstlerischen Mehrwehrt zu belauschen gibt. Die Simple Minds reproduzieren „New Gold Dream (81-82-83-84)“, ihren Scheitelpunkt zwischen elektronisch-monotonem Untergrund-Punk und Stadion-Rock, 40 Jahre später in veränderter Besetzung – nur Sänger Jim Kerr und Gitarrist Charles „Charlie“ Burchill sind auf beiden Alben zu hören – und veröffentlichen den Mitschnitt aus der Paisley-Abbey-Kapelle als Tonträger. Der ist acht Sekunden kürzer als das Original, weicht in Details von der Vorlage ab und klingt natürlich abgeklärter als die jugendliche Vorlage.
1977 gingen die Simple Minds aus Johnny And The Self Abusers hervor, 1979 erschienen sowohl das Debüt als auch das zweite Album der Glasgower. Ersteres, „Life In A Day“, war Punk, zweiteres, „Real To Real Cacophony“, düsterer Minimal-Electro und Post-Punk: Die ersten drei Jahre waren die besten, die die Simple Minds künstlerisch aktiv waren. So setzte es sich auf „Empires And Dance“ und den Zwillings-Mini-Alben „Sons And Fascination“ und „Sister Feelings Call“ fort – doch das reichte der Band dann nicht mehr, deshalb änderte sie 1982 auf „New Gold Dream“ den Kurs, mit dem Erfolg, dass das Album Platz 3 der Britischen Charts erreichte. Einiges an monotoner Elektronik blieb erhalten, aber insgesamt waren die Songs zugänglicher. Mit Charterfolg für die Singles „Promised You A Miracle“, „Someone Somewhere (In Summertime)“ sowie das Titellied, das mit Kuhglocke und dynamischem Bass schon selbst so tanzbar war, dass die Utah Saints es 1992 nur minimal modifizieren mussten, um es zum Dancetrack umzugestalten.
Man hört dem Original-Album den Auf- und Umbruch an, das Vorsichtige, das Zurückhaltende, den Wunsch, mit den behutsam eingearbeiteten experimentellen Einfällen ein breiteres Publikum erreichen zu wollen. Der Sound erinnert an den von „Avalon“, das beinahe zeitgleich erschienene Kommerzalbum der einstigen Glamrocker Roxy Music: Schöne Melodien, zaghafte Gitarren, Synthiesounds, gelegentliche repetitive Strukturen. 1982 bestanden die Simple Minds noch aus Jugendlichen, die sich und der Welt etwas präsentieren wollten, und mit „New Gold Dream“ leiteten sie den Übergang zum Stadionformat ein, gefolgt von dem vergleichbaren „Sparkle In The Rain“ und dem nunmehr auf Radio-Rockmusik fokussierten „Once Upon A Time“, das von der Nicht-Album-Single „Don’t You (Forget About Me)“ flankiert wurde. Willkommen in den Achtzigern – gegen deren Ende die Schotten mit „Street Fighting Years“ plötzlich kunstvoll auf reflektiert und kritisch machten. Danach ging’s bergab, bis heute, auch wenn die Simple Minds Jahr um Jahr neue Alben veröffentlichen, die man sich auch gut anhören kann, aber durchgehend künstlerisch wertvoll war danach keines mehr.
Also? Verlegt man sich auf den Backkatalog und spielt alte Hits neu ein, am einfachsten live. Auf „5×5“ feierten sie spritzig ihre noch in den Neunzigern verhassten ersten fünf experimentellen Alben, zu denen sie „New Gold Dream“ noch zählen, und auf dem an den Titel des ersten Livealbums „Live In The City Of Light“ angelehnten „Live In The City Of Angels“ dudelten sie ihre Songs schlicht herunter. Interessant waren die „Acoustic“-Versionen ihrer Songs, weil sie da wirklich hörbar von den Vorlagen abwichen und sie entlang an den großartigen Originalen weiterentwickelten. Außerdem gab’s „The Greatest Hits Live“, „Big Music Tour“, „Celebrate Live At The SSE Hydro Glasgow“ sowie diverse weitere Mitschnitte. Nun also „New Gold Dream“ live.
Ja, die Simple Minds halten sich an die Vorlage. Sofort fällt aber auf, dass der Klang glasklar ist, unerwarteterweise, schließlich handelt es sich um ein Live-Album, da befürchtet man oft Schwierigkeiten. Hier nicht, und dann verwundert als nächstes, dass man keinerlei Publikum hört. Was daran liegt, dass es keines gab: Auf Youtube kann man sehen, dass die Band um Roland-Kaiser-Lookalike Jim Kerr in der leeren Kapelle performt. Und die ist enorm ansehnlich, eine Augenweide als Kulisse. Es gibt also Filmaufnahmen davon, schließlich handelt es sich ursprünglich um einen Live-Stream des Senders Sky Arts in dessen Serie „Greatest Albums Live“ – warum verkauft an das Album also nicht als DVD? Egal.
Die einzelnen Songs hört man im vertrauten Outfit, aber doch anders gespielt, schließlich sind die Musiker heute 40 Jahre älter als damals – und außerdem überwiegend ausgetauscht. Man hat es vielmehr mit einer Simple-Minds-Coverband zu tun, die sich hier des Albums annimmt. Das ist so ähnlich wie mit den Neueinspielungen der alten Alben von The Wedding Present, bei denen nur noch David Gedge von Anfang an dabei ist. Kerr singt hier mit weit mehr Inbrunst, etwa bei „Hunter And The Hunted“ oder mit seinen Shouts bei „King Is White And In The Crowd“; er tauscht seine einstige Zurückhaltung gegen das aus, was er danach an Entertainment dazulernte, und es passt gut. Dazu gesellen sich Backing-Vocals, wie die Simple Minds sie erst später in ihre Musik integrierten, hier von Sarah Brown gesungen.
Weitere Unterschiede ergeben sich in den Outros mancher Songs, etwa die eingebaute Melodica bei „Big Sleep“, das neue Solo in „Somebody Up There Likes You“, der spacige Abgang beim Titellied, ein abgewandeltes Synthiesolo in „Hunter And The Hunted“. Auch sonst sind die Instrumente leicht verändert abgemischt, in „Colours Fly And Catherine Wheel“ etwa tritt der Bass noch geiler hervor als im Studio. Und doch: Dem Original wohnt eine Seele inne, die es so nicht mehr gibt, weil sich die Simple Minds entwickelten. Damals war die ganze Musikszene noch völlig anders, damals krachte ein solches Album in eine aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbare vielfältige Chartslandschaft. Man wird daher vermutlich das Original in den kommenden Jahren häufiger auflegen als die Live-Variante, so aufschlussreich sie auch sein mag. Und Herbie Hancock fehlt hier außerdem.