Von Matthias Bosenick (12.10.2023)
„Ata, Ata, Ata / In die Kneipe geht der Vatter“, zitierten einst Studio Braun einen Fünfziger-Jahre-Beischlafverweigerungswitz, und der hat rein gar nichts mit „Átta“ zu tun, dem nach zehn Jahren Pause nunmehr achten („Átta“, Isländisch für acht, juhihu!) Album der isländischen Eskapismus-Postrocker Sigur Rós. „Juhihu“, kopfsingt Jónsi in beatlosen Watteräumen, und man stellt fest, dass man dem inzwischen reichlich entwachsen ist, was einem noch vor 20 Jahren so musikalisch die Seele streichelte. Hohe Töne machen glücklich, heißt es, das mag für einige Leute zutreffen, anderen hingegen gehen sie vielmehr auf die Nerven, und selbst als jahrzehntelanger Fan stellt man fest, dass man längst zur zweiten Kategorie gehört.
Um spärliche, fließende und schöne Musik ging es der zum Trio geschrumpften Band, ließ Jónsi verlautbaren. Die ersteren beiden Punkte treffen zu, das London Contemporary Orchestra besorgt die – nun – spärlichen, fließenden Flächen und generiert im Verbund mit Synthies und so gut wie gar nicht hörbar Bass, Gitarre und Schlagzeug sowie deutlich hörbar Jónsis Gesang das akustische Äquivalent zu einem Beutel Watte. Man kann sich fallen lassen und wird wohligwarm umschlungen, man sieht nur die Farbe Weiß um sich, in einem unendlichen Raum ohne Konturen. In kaum wahrnehmbarer Langsamkeit verändern sich die Wattebäuschchenkonstellationen über fast eine Stunde Spielzeit auch mal, „jede Action wäre Stress“, sang Nena, „ich bleib im Bett“. Aber schön?
Schon merkwürdig. Als Sigur Rós 1999 mit ihrem zweiten Album „Ágætis Byrjun“ außerhalb Islands reüssierten, geschah dies, weil der Sound des Quartetts so ungewöhnlich war. Postrock war damals noch nicht so mehrheitsfähig und eher nischig, und die Art und Weise, wie Sigur Rós ihren Postrock produzierten, war nochmal extra ungewohnt, mit schwebenden Sounds, mit dem Bogen malträtierter E-Gitarre und einer Kopfstimme, die in der erfundenen Sprache Vonlenska, Hoffnungsländisch, lautmalte. In Arrangement und Komposition gelang es der Band, Emotionen zu triggern, Melancholie in einem Zuge zu reizen und zu stillen, die große Geste auszubreiten und doch die Hörenden eng zu umschlingen, ihnen einen Schutzraum zu gewähren.
Die folgenden Alben „()“ und „Takk…“ griffen diese Stimmung auf und vertieften und erweiterten sie, mit der EP „Ba Ba Ti Ki Di Do“ begannen Sigur Rós dezent zu experimentieren. Dann kam „Heima“, die Doku, die parallel zu „Hvarf/Heim“ die Band bei der Rundreise durch Island begleitete, nachdem sie von einer Welttour zurückkehrte, und die war an überwältigender Emotionalität nicht zu übertreffen war. Ein künstlerischer Höhepunkt, der Gipfel, der Zenit. Es musste anders weitergehen, es ging anders weiter – auf „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ entdeckten sie überzeugend die Fröhlichkeit und den Upbeat für sich. Ja, ein Fortbewegen war nötig geworden, Stillstand ist Rückschritt, man folgte ihnen gern. Dann kam der Bruch, es wurde unangenehm aufgekratzt mit „Valtari“ und „Kveikur“, die beide das noch unkonventionellere Debüt „Von“ und die dazugehörige Remix-CD „Von brigði“ nicht wirklich aufgriffen, und dann kam für die nun zurückliegenden zehn Jahre gar nicht mehr, weil die internen Schwierigkeiten schwerer wogen als die Kreativität.
„Átta“ ist nun eine Art Neuanfang, der an alte Qualitäten anschließen soll. Sicherlich atmet das Album den Geist der Psychotherapie, doch wenn man zu denen gehört, die diese Therapie Anfang der Zweitausender brauchten, wäre es fürs eigene Leben ja wohl eher rückschrittlich, im Jahre 2023 immer noch an dem Punkt zu stehen, an dem man genau darauf noch angewiesen ist. So wirkt das Album wie aus einer anderen Zeit, wie ein Rückblick auf etwas, das man überwunden zu haben überzeugt ist, das also vielmehr einen Schmerz auslöst, in den man nicht mehr zurückversetzt werden will, weil man bereits eigene Mittel gefunden hat, mit dem ganzen Scheiß hier klarzukommen. Da ist „Átta“ sogar eher viel zu weinerlich, als dass es einem Kraft geben kann.
So richtig ganz ohne Veröffentlichung waren Sigur Rós überdies nicht: Es gab mit „Route One“ und „Liminal“ zwei Remix-EPs, mit „Odin’s Raven Magic“ die offizielle Veröffentlichung des bereits 2002 mitgeschnittenen Soundtracks mit namhafter Beteiligung sowie die zwei Singles „Óveður“ und „Á“, die beide leider nicht auf „Átta“ enthalten sind, dafür auf dem Zweithandmarkt unbezahlbar. Mit dem brennenden Regenbogen, der politische Missstände anprangert, sieht „Átta“ eindrucksvoll aus, dafür lohnt sich die LP immerhin. Ansonsten möchte man seine verbliebenen spärlich fließenden bösen Geister doch längst lieber mit kraftvollerer und trotzdem nicht zwingend schönerer Musik vertreiben.