Von Matthias Bosenick (01.07.2020)
Jazzrock steht auf dem Etikett der beiden Alben der niederländischen Band Scope, die die Goldgräber von Sireena nach 45 Jahren erstmals auf CD veröffentlichen dürfen. Interessanterweise macht die Musik von I zu II einen Bruch: Aus dem virilen, freien, fröhlichen Gemucke wird ein hektisches Formatgedudel. Sicherlich ist die II massentauglicher, aber die I ist aufregender. Auf beiden Alben gleich geil ist der Schlagzeuger: Was der wegmostet, braucht anderswo mindestens zwei Drummer.
Das Experiment stand auf der ersten Platte aus dem Jahr 1974 noch im Zentrum des Geschehens: Als Quartett brachte sich jeder Instrumentalist wild ausufernd in die instrumentalen Tracks ein. Die Stücke folgten keinen Songstrukturen, sondern ergaben vielmehr dem Jazz sehr nahe Preziosen mit Raum für Atmosphäre wie für Experiment gleichermaßen, ohne auf so etwas wie Groove oder Melodiösität komplett verzichten zu wollen. Wenn Frickler mal ruhig spielen, kommt das im Kontrast viel eindrucksvoller, und solche Kontraste gibt es auf der I zuhauf. Dieses Debüt ist die Folge mehrerer Jahre auf Bühnen; die erste Single, als Duo noch unter dem Namen Strange Power veröffentlicht, fügt das Label Sireena dem Album als Bonus an. Keyboard, Flöte, Gitarre, Bass und vor allem Schlagzeug: Wenn die Band loslegt, ist jeder mal dran, aber nicht konkret abgesteckt, sondern in die von sich aus schon freidrehenden Tracks eingefügt. Hier gibt es richtig was zu entdecken.
Und das wirft die Band auf der II über Bord. Die Tracks wirken plötzlich komponiert, durchdesignt, geradegebogen, poliert. Alles fließt in geordnete Richtungen, das wilde Experiment bekommt einen Rahmen, das Solieren den festen Platz und die Musik wird plötzlich gefällig. Das scheint die Reaktion auf die wohlwollende Resonanz auf das Debüt zu sein, der Gedanke, dem Publikum jetzt etwas bieten zu müssen, und ist sicherlich außerdem die Konsequenz einer Umbesetzung. Die Band wirkt gezähmt, das Avantgardistische fehlt, um die II bemerkenswert und unterscheidbar von anderen chartstauglichen Jazzrockfusionalben zu machen. Einzig das hektische Tempo scheint sich nicht in ein Korsett zwängen zu lassen, da bricht sich der Schlagzeuger Bahn.
Noch auf der I finden sich zahlreiche Analogien zu anderen Meistern dieser Art, etwa zu Magma oder Frumpy, und wie bei jenen ist auch bei Scope hörbar der Schlagzeuger die treibende Kraft, inklusive Solo auf der I sowie der Eigenschaft, sich auch mal zurückzunehmen. Der Flöte wegen mag man sich gelegentlich an frühe Krautrockausflüge à la „Ralf & Florian“ erinnert fühlen, in manchen Aspekten an die frühen Focus, der Rest ist progressiver Jazzrock mit auf der I mehr Tendenz zum Jazz und auf der II zum Rock.
Die Geschichte besagt, dass es nach dem zweiten Album zu neueren Umbesetzungen und in deren Folge zur Auflösung der Band kam. Jahrzehntelang versuchten Fans nun, diese beiden Alben wiederzuveröffentlichen, und 2020 vermeldet Sireena den gefeierten Vollzug. Der Bandname ist leider schwer googelbar, bei Discogs sind die Niederländer als Scope (15) geführt. Und: Nach Scope waren alle Musiker eher im Jazz aktiv, die II somit wohl als Ausreißer zu werten. 1976 aufgenommene Demos wurden erst 2010 als III veröffentlicht und nicht in den Kanon der originalen Scope integriert.