Von Matthias Bosenick (18.08.2023)
Angekündigt als vielversprechender neuer Act auf dem gemeinsamen Label von Daniel Bressanutti und Dirk Bergen, den beiden Mit-Gründern der belgischen EBM-Erfinder Front 242, ignorierte der Rezensent das Debüt des anonymen Projektes Rouge Brulé, man muss ja hauszuhalten lernen und die Bude ist doch schon so vollgestopft, Allessammler hin oder her. Doch schützt Alter bekanntlich vor Torheit nicht: Einige Wochen nach der Veröffentlichung offenbart der fast 70jährige Bressanutti, dass er selbst es war, der das Doppel-Album einspielte und fast zwei Monate nach dem 1. April veröffentlichte, der Scherzbold. So viel Platz ist dann natürlich noch im Regal, zu Recht: Dieses Mal kombiniert der Experimentator den Jazz in seinen dystopischen Ambient. Hatten wir noch nicht von ihm.
Ambient ist trotz aller ungewohnten Experimente das bestimmende Genre dieser gut anderthalb Stunden Musik. Die Grundstimmung ist dabei eher dunkel, nicht so eskapistisch, wie man es etwa aus der Berliner Schule oder anderen Ambient-Alben Bressanuttis kennt. Bressanutti bedient streckenweise das große Drama, als liefere er den Soundtrack zu einem emotional aufwühlenden oder unterschwellig spannenden, mindestens verstörenden Film. Angepriesen ist „Rouge Brulé“ als „experimental, avant garde free form jazz and minimal cosmic psychedelia“, zum Auftakt zitiert der Produzent den Minimalismus wie von Philip Glass, also die Anmutung von mit der Oboe eingespielter Klassik, auf kürzeste Sequenzen heruntergebrochen und zu zittrigen repetitiven Melodien zusammengefügt, später mit einem industrialartigen dubbigen Electro-Beat verfeinert, der die Rhythmik des Balkans aufgreift. Man könnte auch von Jazz sprechen, ja.
In Sachen Schlagzeugprogrammierung ist Bressanutti ein ausgefeilter Frickler, was er hier loslässt, klingt organisch, nicht programmiert, sehr lebendig, variabel. Wundervoll passend zu den Synthesizer-Kapriolen, die er schlägt, bevor er die Musik von Beats befreit und ins All schickt, in die Dunkelheit. Rätselhaft ist, wo Daniel B. die Track-Indizes setzt: „Douleur au coeur“ teilt er in zwei etwa acht Minuten lange Tracks auf, die beschriebene Beat-Sequenz umspielt den Übergang von „Pt 1“ zu „Pt 2“ – eigentlich hätten dies drei verschiedene Tracks sein können. Ebenso verfährt er beim Folgetrack „Into Ashes“, der als freier Ambienttrack beginnt und in der Mitte einen komplexe synthetische Beats unter eine frei im All schwebende Trompete legt, die Stimmung des Tracks also komplett auf den Kopf stellt.
Abermals das Schlagzeug ist die Besonderheit in „Au jour du sacrifice“, den Bressanutti setzt es ein wie vor 70 Jahren im Swing, lässt es aber nicht zu Jazz-Instrumenten wirbeln, sondern zu effektvollen Electro-Spielereien, in deren Zuge er es ebenfalls electrofiziert, dubbt, rückwärts spiellt, sonstwie verfremdet, dass es beinahe an das „P.U.L.S.E.“-Album von Front 242 erinnert, speedy, treibend, mit einem hohen, flirrenden Ton und Synthieflächen dazu. Auch „Avant que trop tard“ startet mit dem jazzigen Swing-Schlagzeug, hier tritt das Soundtrack-Artige am ausgeprägtesten zutage.
Es folgt das viergeteilte (oder gevierteilte) „Honey And Blood“, das sich sehr stark dem Ambient-Anteil Bressanuttis zuwendet, mit Drones, im leeren Raum schwebenden Samples, zumeist ohne Rhythmus oder Melodie, rein atmosphärisch, Emotionen weckend, verspielt, trotzdem dunkel, und bei allem sicherlich die größtmögliche Spielwiese, die Daniel B. sich auf diesem Album herausnimmt. Er bleibt über die Spielzeit weitgehend körperlos, erst sieben Minuten vor Schluss legt er dubbige Beats und noisige E-Gitarre über den Flächen – ein schöner Ausklang für dieses Experiment. Im Grunde ist „Honey And Blood“ eher ein Bonus zu „Rouge Brulé“ als ein nachvollziehbarer Teil desselben.
Von wegen, hoffnungsvoller junger Act! Witzbold! Nach seiner Offenbarung verkauft Bressanutti das Album übrigens unter seinem Alias Daniel B., lediglich als Titel behält er „Rouge Brulé“ bei.