Von Matthias Bosenick (11.05.2022)
Rabiye Kurnaz alltagt den ganzen Scheiß einfach weg. Mit einer unbändigen Energie und ihrem sehr persönlichen Humor stellt sich die Bremer Hausfrau gegen den Umstand, dass man ihren Sohn Murat als potentiellen Taliban irgendwo in der Welt ohne Rechtsgrundlage inhaftiert, zuletzt in Guantánamo. Mit ihrer beinahe ignoranten Hartnäckigkeit findet sie in Anwalt Bernhard Docke einen Verbündeten, der mit ihr die unwahrscheinlichsten Instanzen abschreitet, um für Murat Gerechtigkeit walten zu lassen. Klingt wie ein Märchen? So inszeniert es Andreas Dresen auch, und doch orientiert sich diese Geschichte an der Realität. Dresen suggeriert, dass es im Kampf gegen diffuse Gegner nur gute Menschen auf der Welt gibt – und gerade in solch bitteren Zeiten tun Filme wie dieser echt gut. Und trotz aller Menschenrechtsthemen ist dies nicht vordergründig die Geschichte des juristischen Sieges über George W. Bush, sondern vielmehr ein Porträt von Rabiye Kurnaz.
Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Murat Kurnaz verschwindet aus heiterem Himmel nach Pakistan, um, wie er sagt, in dortigen Koranschulen seiner in der Türkei lebenden Ehefrau ein besserer Gatte zu werden. Da er jedoch deshalb für einen islamistischen Extremisten gehalten wird, landet er bald schon im auf Kuba gelegenen US-amerikanischen Folter-Lager Guantánamo. Seine Mutter Rabiye Kurnaz glaubt nicht an Taliban-Verbindungen und ihrem Anwalt Bernhard Docke geht es losgelöst von dieser Frage um Gerechtigkeit und einen fairen Prozess, der Murat verweigert wird. Keine Instanz fühlt sich jedoch zuständig: Deutschland nicht, weil Murat einen türkischen Pass hat, die Türkei nicht, weil Murat in Deutschland geboren ist, und die USA nicht, weil man dort ja keine Fehler macht, und doch rütteln Rabiye und Bernhard überall dort an den Toren, um sich Gehör zu verschaffen. Letztlich schließen sie sich einer prominent geförderten US-Sammelklage an – gegen Präsident George W. Bush.
Für diese Geschichte wählt Dresen eine dezentrale Erzählweise. Er zeigt Schlaglichter aus dem Leben von Rabiye, die er mit Datumstafeln und der Angabe, wie viele Tage Murat zu dem Zeitpunkt inhaftiert ist, voneinander abtrennt. Den komplett durchgehenden Faden zerhackt Dresen und legt ihn zerstückelt über den ganzen Film, den man sich als Zuschauer dann selbst zusammenbauen muss. Weil es einfach viel zu viele Aspekte gibt, die man nicht in knapp zwei Stunden ausformulieren kann; Dresen deutet sie bisweilen einmalig an, stellvertretend für einen generellen Zustand. Etwa: Rabiyes Ehemann ist merkwürdig passiv, unterstützt sie nicht in ihrem Vorgehen zugunsten des gemeinsamen Sohnes, und einmal erklärt er, dass er von Murats Unschuld nicht überzeugt ist. Mehr Ehekrise, mehr Ehemann ist kaum zu sehen; der Mercedes-Schichtarbeiter schenkt ihr einmal ein Cabriolet, und die gemeinsame Spritztour durchs Viertel mit der sonnenhell strahlenden Rabiye auf dem Beifahrersitz steht dann wieder stellvertretend dafür, dass sich die Eheleute wohl doch sehr zugeneigt sind. Und das, obwohl Rabiye einmal zu Bernhard sagt, dass es das Modell der Deutschen von Liebe bei Türken nicht gibt, sondern sie aus anderen, sachlichen Gründen heiraten. Ein Puzzlespiel, dieser Film, der die Zuschauenden herausfordert, und der diesen Weg wählt, um zwar vollständig, aber nicht überausführlich zu sein.
Unklar ist beispielsweise auch, wie viel Zeit sowohl Bernhard als auch Rabiye tatsächlich in ihre Aktivitäten stecken. Bisweilen vergehen zwischen zwei Szenen Monate, ohne dass die Bemühungen signifikant vorangehen. Tatsächliche Entwicklungen erfährt man dann wiederum wie nebenbei, etwa aus Nachrichtenmeldungen, die im Hintergrund laufen, ohne indes in Erfahrung zu bringen, wie groß der Einfluss der beiden Hauptfiguren auf diese Entwicklung tatsächlich ist. Am Ende steht Murat vor seiner Familie – und es ist ebenso unklar, wie es dazu nun genau gekommen ist. Oder hat man da nur einmal eine Hintergrundinfo verpasst?
In Zeiten großer Unsicherheit und zunehmender Fremdenfeindlichkeit ist dieses Manifest der Mitmenschlichkeit willkommen. Bernhard deutet an, dass er unentgeltlich für Rabiye und Murat arbeitet, weil es ihm um Gerechtigkeit geht. Die Sammelkläger in den USA und die Kollegen der Anwaltspraxis sind in Haut- und Haarfarbe sowie Augenform derartig divers, dass man als Linksgrünversiffter nur glücklich von einer Idealgesellschaft sprechen kann. Überall Verbündete: der arabische Vater, der Taxifahrer, der Hollywoodschauspieler, unzählige. Was hingegen fehlt, sind Gegner, greifbare Widersacher, Kritiker. Ein Journalist, der hinterfragt, warum sich Bernhard für Taliban einsetzt, ist die wiederum angedeutete mahnende Stimme, die Bernhard indes beiseitefegt, mit dem Argument, es gehe ihm um Rechtsprechung, auch wenn es sich um Terroristen handeln sollte – der faire Prozess gebühre auch ihnen. Und wieder ein guter Mensch.
„Ich bin Rabiye, Mama von Murat, und Sie gehen von meinen Schneeglöckchen runter!“ – Murat: „Ich möchte kurz allein sein.“ Rabiye: „Verstehe ich, ich komme mit.“ – Bernhard, das Duzen anbahnend: „Ich bin Bernhard.“ Rabiye, verwirrt: „Weiß ich doch!“ – Rabiye ist hier die türkische Mama, die nur ihr Ziel vor Augen hat, kombiniert mit ihrem Lebensalltag, der überall einfließt; Hollywood-Schauspieler Tim Williams, dem mit der Sammelklage, empfiehlt sie inmitten einer ernsthaften Begegnung etwa, seinen Ficus zu düngen. Man könnte meinen, angesichts der Thematik sei es respektlos, Rabiye auf diese Weise darzustellen, doch bringt genau diese Figurenzeichnung Authentizität in den Film, die Mama wird glaubwürdig, so ist sie eben, und man kann, man muss sie trotzdem ernstnehmen. Irgendwann tut sie das auch selbst, wenn sie nämlich nach erneuten Rückschlägen ermattet im Bett liegt und sich mühsam wieder aufrappelt; wütend indes wird sie nie. Rabiye entwickelt sich, lernt sogar für ihre Verbündeten einige Brocken Englisch, zeigt Empathie für den am Limit agierenden Bernhard, und in der depressiven Schlussphase kehrt Ruhe ein, da zeigt sie auch, dass sie begreift, wie belastend ihre Hatz für die anderen beiden Söhne sein muss; wieder so ein Puzzleteil, das nur angerissen wird. In dieser Sequenz geht dem Film dann auch etwas die Puste aus, das Ende kommt sogar etwas aus dem Nichts. Aber es kommt, ohne Glamour, sondern rein auf der emotionalen Ebene, die man mit einem Hollywood-geschulten Blick kaum nachempfinden kann, weil der Bombast fehlt.
Und Meltem Kaptan spielt Rabiye gigantisch gut. Die Klaviatur der Emotionen hat sie im Blick, sie überzeugt mit jeder Regung, dagegen verblassen beinahe sämtliche anderen Figuren. Der Film ist ein Porträt von Rabiye, und darauf fokussiert sich die Geschichte daher auch, deshalb deutet Dresen den Rest eher an, aber er deutet immerhin, er lässt immer wieder elementare Geschehnisse in kurzen Momenten erscheinen, da ist er schon vollständig. Alexander Scheer als Bernhard war noch in Dresens vorherigem Film „Gundermann“ die Hauptfigur, und der performt den hölzernen Norddeutschen gut, und in der Natur der Sache liegt einfach, dass er nicht genug Glanz hat, um neben Rabiye zu erstrahlen. Auch er wächst indes und bekommt Anteile am Licht, aber Rabiye ist eben Mama von Murat, da geht nichts drüber.
Nun ist dies aber ja auch ein Kinofilm, und auch, wenn man keine exorbitant cineastische Filmkunst bekommt, kann Dresen mit dem Medium umgehen und erzeugt Bilder, die mehr sind als nur Begleitung der Figur Rabiye. Zudem setzt er Musik interessant ein, indem er auf Streicherkitsch verzichtet und dezidiert orientalisch inspirierte Folklore als Score verwendet. Abgesehen von türkischer Partymusik im Auto oder bei Karaoke. Dresen hat eben ein vortreffliches Team-Ensemble an seiner Seite – Drehbuchautorin Laila Stieler, Kameramann Andreas Höfer. Kombiniert mit der Abwesenheit des personifizierten Bösen (der deutsche Staat kommt hier am Rande sogar schlechter weg als die USA) ergibt dies ein Kinomärchen, auf das man sich gern einlässt – danke dafür.