Von Matthias
Bosenick (09.05.2019)
Die Pokémon-Go-Spieler, die einfach
nur ihre Lieblingsmonster animiert im Kino sehen wollen, reiben sich
überrascht die Augen: Die Story, die um das
Taschenmonster-Multiversum herumgestrickt wurde, ist mehr als nur
okay, und die Bilder begeistern auf allerweitesten Strecken. Einem
Pikachu mit Pelz und einem entwaffnenden Schatz an rhetorischen
Mitteln guckt man gern dabei zu, wie es als Kumpel eines
melancholischen Detektivsohns in einem Mordfall ermittelt, in dem
Drogenmissbrauch, illegale Arenakämpfe und das Streben nach
Weltherrschaft wichtige Rollen spielen. Ohne Vorkenntnisse mindestens
aus Pokémon Go hat man zwar etwas weniger Spaß an diesem Film, mit
dafür unbändigen. Eine gelungene Umsetzung.
Pikachu ist aber auch süß. Und schlagfertig: Als Begleiter von Tim,
der ihn als einziger versteht und nicht nur das übliche „Pika
pika“ hört, wirft er sich in die Aufklärung eines Unfalls, an dem
er selbst beteiligt war. Denn Pikachu war erst Buddy von Tims Vater,
und als Folge dieses Unfalls, bei dem jener ums Leben gekommen sein
soll, leidet Pikachu an Gedächtnisschwund. Der vereinsamte
Versicherungsvertreter Tim und Pikachu treffen auf die übereifrige
Fernsehkanalpraktikantin Lucy und ihren explosiven Buddy Enton, die
einer Verschwörung um das unschlagbare Pokémon Mewto auf der Spur
sind, in die Tims Vater verstrickt gewesen sein soll. Unterstützung
bekommen sie überraschend von Howard Clifford, dem Chef der
künstlichen Stadt Ryme City, in der Menschen und Pokémons, anders
als in freier Wildbahn, in friedlicher Koexistenz harmonieren –
hier hat jeder Mensch seinen Pokémon-Buddy bei sich. Das Quartett
ermittelt, besteht Abenteuer, wird gejagt und durchlebt ein wahres
Wechselbad an Gefühlen und Gut-Böse-Fronten, inklusive
überraschender Twists.
Man staunt, wie die Macher das
Pokémon-Universum in diesen Film einarbeiteten. Anfangs wollen Tim
und ein Freund in der Provinz tatsächlich ein Tragosso mit einem
Pokéball fangen, genau, wie man es in dem mobilen Spiel macht. Nur,
dass im Spiel die Pokémons nie eine Gefahr für den Spieler
darstellen, ihn also nicht jagen wie im Film; das Schlimmste, was
einem Pokémon-Go-Spieler wiederfahren kann, ist, dass das Pokémon
beim Versuch, gefangen zu werden, flüchtet. Kämpfe finden
ausschließlich zwischen Monstern und in Arenen statt, und das
sportlich, nicht blutrünstig: Geschlagene Monster sterben oder
bluten nicht, sie verlieren lediglich an Motivation, die man mit
einem speziellen Trank, hier: Kaffee, wiederherstellen kann.
Arenenkämpfe schließt das Konzept der Koexistenz für den Film zwar
aus, aber illegal finden sie dennoch statt: Pikachu tritt, von seinem
Trainer Tim wie im Spiel an seine besonderen Attacken erinnert, gegen
den Feuerdrachen Glurak an, der sich allerdings mit Sternenstaub
dopt. Ah, da greift schon wieder ein Element aus Pokémon Go, dass
man nämlich mit einer ominösen Substanz namens Sternenstaub seine
gefangenen und trainierten Monster aufwerten kann. Die zweite ominöse
Substanz im Spiel sind Bonbons, im Film Jellys genannt, mit denen die
Pokémons in stärkere Monster entwickelt werden können, die Pikachu
jedoch lediglich als Redewendung einbringt.
Gut gelöst
sind die beiden Hauptfiguren, die den beiden Avataren im Spiel
ähneln, inklusive auswählbarer Hautfarben: Pokémon Go spielt man
international, weltweit, grenzenlos, altersunabhängig und ohne
Ismen. Auch ohne Sexismus; in einer Szene erklärt Tim dem Pikachu,
dass Frauen es vorziehen, wenn man sie nicht „Frolleins“ nennt
und wenn man besonnen agiert, und im Hintergrund startet Lucy mit
einem Bolzenschneider schon das nächste Abenteuer. Nicht zuletzt
findet eine weitere Besonderheit des Spiels elementaren Einzug in den
Film, nämlich die Forschungsaufträge, bei denen man von einem
juvenilen Professor Aufgaben bekommt, nach deren Erfüllung man die
Gelegenheit hat, ein spezielles Pokémon zu fangen, unter anderem
eben jenes Mew, das als entwickeltes Mewto im Film tatsächlich einer
Forschungseinrichtung entspringt und all das Chaos erst
auslöst.
Natürlich ergötzt man sich an den
Wimmelbildern in der nicht konkret lokalisierten Großstadt und
versucht, so viele vertraute Pokémons wie möglich zu erhaschen.
Catch ‘em all mit dem Auge. Im Film gelingen Haut- und
Pelzstrukturen weit besser als im Spiel, das Fell etwa von Pikachu
oder Relaxo wirkt fluffig; lediglich die Bisasams in der Wildnis
sehen etwas reingedroppt aus, aber nicht schlimm. Dafür war die
vorhergehende Szene mit den gigantischen, an Groß-A’Tuin
erinnernden Chelterrars an Achterbahnigkeit nicht zu überbieten.
Auch der illegale Kampf mit dem Feuerrachen und die Entwicklung des
zappelnden Karpardors sind nicht nur schöne Gimmicks, sondern auch
schön umgesetzt. Ein Augenschmaus ist zudem das Verhalten des
Formwandlers Ditto, aber da sei nicht zu viel verraten. Auch visuell
gelingt die Koexistenz von Mensch und Monster also
hervorragend.
Auch losgelöst vom Pokémon-Sujet überzeugt
der Film. Die Bilder sind großartig, viele Szenen finden im
Halbdunklen statt, was das Einbetten von CGI-Monstern überzeugender
macht. Es gibt jede Menge Action, die sich hinter Klassikern wie
„Alien 3“, „Gremlins“ oder „Jurassic Park“ nicht
verstecken muss und mit den eingespielten Hologrammen sogar eine
eigene Ästhetik generiert. Geschickt altersunspezifisch sind die
Hauptfiguren, die zwischen alten Kindern und jungen Erwachsenen jedem
eine Identifikationsfläche bieten; Tim entwickelt sich sogar
überzeugend vom niedergeschlagenen Trauerkloß zum motovierten
Helden. Viele Sequenzen und Dialoge richten sich an ein erwachsenes
Publikum, aber gewisse Strukturen, etwa im Journalismus, sind
angemessen kindgerecht dargestellt. Die Sprüche des gelben
Kuschelmonsters sind frech, aber nicht überzogen vorlaut und so gut
wie gar nicht fäkal, was echt mal eine Wohltat ist. Zudem erzählt
der Film in einem atmungsfreundlichen Tempo, inklusive Actionpassagen
und Herzschmerzsequenzen, die nicht pathetisch, kitschig oder
weinerlich umgesetzt sind, was ebenfalls eine Wohltat darstellt. Die
dritte Wohltat ist, dass der Film plumpe Albernheiten vermeidet.
Für
den deutschen Markt verwendet der Synchron – bis auf für die
Bonbons – die deutschen Wörter aus dem Spiel: Pokémons haben
weltweit sechs verschiedene Namen, nämlich auf Deutsch, Englisch,
Französisch, Japanisch, Koreanisch und Chinesisch. Auf Plakaten im
Film sind nun klassische Arenakämpfe angekündigt, in denen die
Monster jedoch mit den in Deutschland unbekannten englischen Namen
aufgeführt sind, da gehen leider einige Referenzen verloren. Dafür
flechten die Filmemacher eben andere als Metaebene ein, etwa ein
Pikachu-Bett. Böse ist mit Filmstart das Spiel Pokémon Go selbst:
Es spoilert, indem es Monster, die im Film zu sehen sind, vermehrt
auftreten lässt. Wenn man sich den Überraschungseffekt also nicht
vor dem Filmgenuss verderben will, sollte man das Mobiltelefon eine
Weile nicht benutzen. Dann verpasst man aber den Pikachu-Fotobomber,
der mit dem Detektivhut auf dem Pelzkopf vorübergehend den Farbeagle
ersetzt.
Ach, und: Mit Bill Nighy, etwa aus der
Cornetto-Trilogie bekannt, und Ken Watanabe sind namhafte
Schauspieler dabei. Ganz angesehen von Ryan Reynolds, der dem Pikachu
im Original die Stimme leiht; auf Deutsch ist es Dennis Schmidt-Foß.
Man kann nur staunen, wie gelungen die Umsetzung eines
Smartphonespiels, das wiederum auf einem inzwischen 23 Jahre alten
Video- sowie einem Sammelkartenspiel basiert, nach diversen Animes
als Realfilm geraten ist. Ohne den Spielbezug hat man da zwar weniger
von, dürfte sich aber ebenfalls an den Bildern und der sprühenden
Fantasie erfreuen können. Und die Abenteuerdetektivmonsterromanze
ist für sich genommen ja trotzdem ansprechend. Man kann nur staunen.