Von Matthias Bosenick (16.08.2018)
Da kann man nur sauer werden: Der Dortmunder Indie-Papst hält marktschreierisch den grundsätzlichen Wert des Produktes hoch und bettelt beinahe darum, seine Musik doch bitteschön zu kaufen, und dann verarscht er diejenigen, die dies auch wollen, mit unterschiedlichen Deluxe-Versionen, die zudem noch jeweils überteuert sind. Das ist nicht indie, das ist Abzocke. Nichts gegen die Songs, die sind okay, schöne Melodien, freundlich bis mitreißend instrumentiert, etwas chilliger als gewohnt. Aber mit der Veröffentlichungspolitik untergräbt Boa seine Kredibilität.
Zunächst zur Musik: Es fällt auf, dass der Voodooclub entspannter ist. Viele der als Hauptalbum deklarierten ersten zwölf Songs entpuppen sich als Balladen, trotz des mitreißenden Uptempo-Einstiegs und der zwischengestreuten Hottenummern mit Rock- und sogar Punkeinschlag. Das spröde Experiment, mit dem sich Boa vor 30 Jahren weltweit Gehör verschaffte, indem er radiotaugliche Melodien nahm und sie unerwartbar instrumentierte und arrangierte, ließ er schon länger zugunsten einer kompakteren Songorietiertheit fallen. Doch der alte Geist lässt sich gottlob nicht exorzieren, den beschwingten Boa hört man immer heraus.
Mit einer Ausnahme: Auf der Bonus-CD lässt er einen Song ausschließlich von der neuen Gastsängerin Nadine Axisa vortragen, und da kommt etwas zum Tragen, das man bei Boa nie erwartet hätte: Der Song klingt nicht nach ihm. Jedes Lied, das ausschließlich von Pia gesungen ist, ist mehr Boa als diese Nummer, da die Sängerin zwar eine hübsche Stimme hat, aber zu verwechselbar singt. Das Stück könnte auch von den Cowboy Junkies sein. Das Zurückweichen von Boas Signatursound lässt die eindeutige Zuordnung zum Voodooclub nicht zu.
Insgesamt ist das Bonus-Album deutlich variantenreicher und mutiger als das eigentliche Werk, wenn auch gefühlt etwas weniger saftig produziert. Damit befeuert es die alte Diskussion um die Willkür bei Boas Albenzusammenstellung, die dem Zeitgeist der Beliebigkeit zu folgen scheint: Betrachtet man die Werke mit ihren zahllosen und voneinander abweichenden Bonustracks, lässt sich kein Konzept mehr erkennen. Was stellt für Boa selbst einen Song dar, der Bestandteil eines Albums ist? Und das, obwohl die glänzenderen Perlen auf limitierten Editionen verschwinden? Diese seltsame Politik verfolgt Boa seit Beginn seiner Karriere mit dem Voodooclub, mit „Earthly Powers“ treibt er sie auf die Spitze. Zur Erinnerung: Auch „Bleach Hosue“ gab es mit einer Bonus-CD, doch das Einfach-Album hatte drei Extra-Songs, die auf der limitierten zweiten CD nicht zu finden waren. Das letzte Studio-Album „Fresco“ gab es lediglich als limitierten Bonus zur drölften Best-Of (und ist nicht Teil der offiziellen Zählung, dann wäre „Earthly Powers“ nämlich Album Nummer 20, nicht 19, und das ist es auch nur ohne Live-Alben, Compilations, EPs und Boas Solo- und Seiten-Ausflüge). Und so weiter. Wenigstens sind die beiden Vinyl-Bonustracks von „Earthly Powers“ auch auf der Bonus-CD enthalten, zumindest halbwegs: „Deep Blue vs My Spine“ gibt es nur auf der LP im „John Wilson Mix“.
Und à propos Bonus: Der zweiten Deluxe-Box liegt eine Live-DVD bei, mit einer 16-Song-Best-Of-Show. Wie auch immer der Mitschnitt qualitativ sein mag, live bekommt man Boa so häufig auf Konserve, dass man sich diese 30 Euro zugunsten der gleichteuren Doppel-CD-Version sparen kann. Wer Boa 2017 live sah, freut sich vielleicht über das selten gespielte „Speed“.
Inhaltlich hat Boa aber etwas zu sagen: „Earthly Powers“ ist benannt nach einem Buch von „A Clockwork Orange“-Autor Anthony Burgess, das auch Deutsch „Der Fürst der Phantome“ heißt (ein Titel, der Boa nicht weniger charakterisiert). Es geht um die Betrachtung der Zivilisation im 20. Jahrhundert, übertragen auf das Jetzt, in dem Boa seine kritischen Beobachtungen teilt. Damit zumindest legt er die Spur in Richtung Songauswahl, dass es offenbar nur die Stücke aufs Hauptalbum schafften, die diesem Konzept entsprechen. Möglicherweise, denn Vinylhörer würden dem ja sofort widersprechen.
Der Voodooclub hat seit Pisa zweitem Weggang keine feste zweite Stimme mehr, die Malteser Sängerin Nadine Axisa ist hier nur unter den Gästen aufgeführt, genau wie Schlagzeuger Chris Mallia (Different Strings), Akustikgitarrist Alastaire Abela und Keyboarder David Vella (seit 1993 häufiger Boa-Begleiter). Zur Hauptband gehören Drummer Moses Pellberg (seit 1993 immer wieder), Gitarrist Oliver Klemm (Pendikel, Sankt Otten, Fischessen), Keyboarder und Cellist Detlef „Tött“ Götte (Christian Hound und seit Ende der Neunziger regelmäßig bei Boa) sowie Bassist Oliver McKiernan (unter anderem auch Gast bei Echobelly). Niemand mehr vom Ursprungsprojekt, die meisten sogar erst wenige Jahre an Bord, kein Wunder also, dass sich „Earthly Powers“ so erheblich von den Wurzeln unterscheidet.