Petrolio – Respira – Toten Schwan Records 2023

Von Matthias Bosenick (10.08.2023)

Wüsste man nicht, dass es sich bei „Respira“ um den Soundtrack zu einem Kurzfilm handelt, spränge beim Hören trotzdem sofort ein Kopfkino an. Der Film dazu wäre eher verstörend und bedrückend, und vermutlich ist er es in der Realität auch, der Trailer deutet an, was der Titel suggeriert: „Respira“, „Atme“, und dazu eine Person mit einer opaquen Plastiktüte über dem Kopf. Unter seinem Nom de Guerre Petrolio erstellt Enrico Cerrato aus Asti ein Mini-Album, das in seinen Grundzügen das klassische Industrial heranzieht, also harsche Sounds, metallisches Kreischen, monotone Rhythmen, doch wäre das allein für den Künstler viel zu plakativ, daher deutet er diese Ansätze lediglich an und bettet sie in einen elektronisch grundierten Score ein, der Dark Ambient, Drones und Atmosphären den Vortritt lässt. „Respira“ ist eine von sechs Episoden des Experimentalprojektes „Film Fantasma“, und jetzt will man den unbedingt sehen.

Cerrato verstört, das kann er gut, er hält sich nicht mit Stereotypen auf. Seine Ausflüge ins klassische Industrial hält er knapp, er deutet an, wozu er in der Lage ist, generiert Wiedererkennbares aus frühen Zeiten von etwa Esplendor Geométrico oder The Klinik, wirf damit aber lediglich vereinzelte Anker aus inmitten eines Meeres aus rhythmusfreien Sounds. Der Einstieg in dieses knapp halbstündige Album erfolgt mit einem zarten, dunklen Drone, über dem vereinzelte Töne liegen, die ebenso gut den Auftakt zu einem Post-Black-Metal-Stück darstellen könnten. Und dann hört man eine Frau atmen. Panisch.

Was folgt, bleibt dunkel. Cerrato begibt sich auf Ambient-Terrain, aber mitnichten zum Wohlfühlen und Davondriften; sicherlich bietet „Respira“ so etwas auch, aber nicht den klassischen Ambient-Hörenden, dafür muss man schon eine gehörige Schippe Gothic-Sozialisation im Blut haben. Brummen, Dröhnen, schleppend Tonhöhen variierend, an Ausdruck und Intensität gewinnend, über die Dauer verlässt Cerrato den Ambient schon wieder, ohne dass man das überhaupt mitbekommt. Ein Klavier suggeriert so etwas wie Normalität, eine Art Klassik, Kammermusik, aber diese Kammer hier ist sehr sehr eng, die Sounds werden harsch, das Klavier mutiert – Cerrato belässt es eben nicht bei Stereotypen. So verfährt er auch in den anderen Tracks, die aus dunklen Soundscapes bestehen, in die er vermeintlich vertraute Passagen einbaut, die er nur doch wieder deformiert.

Diese Herangehensweise erzeugt Spannung, weil man aus der subjektiven Gewohnheit heraus Erwartungen hat, die Cerrato entweder gleich ignoriert oder nur kurz erfüllt und dann zweckdienlich umdeutet. Diese Form von Spannung aus der Musik heraus überträgt sich sicherlich – nun – kongenial auf den Film des Regisseurs AkAb alias Gabriele Di Benedetto, der, so zeigt es der Trailer, nicht minder beklemmend erscheint als sein Soundtrack. Bei dem Film „Respira“ handelt es sich um die fünfte von sechs Episoden in der Gemeinschaftsarbeit „Film Fantasma“ der Produktionsfirma Carboluce, an der die Regisseure Michele Salvezza, Alberto Sansone, Ryan Spring Dooley, Roberto Rup Paolini (der auch der künstlerische Leiter des Projektes ist), AkAb und Seth Morley beteiligt sind sowie die Musiker The Rambo, The Delay In The Universal Loop, Ragazzetto, abermals Ryan Spring Dooley, Vito Gatto, Petrolio und Emilio Pozzolini; als dreizehntes ist der Künstler Ruggero Asnago eingebunden.

Es soll den „Respira“-Hörenden gar nicht so richtig gut gehen, Tracktitel wie „Quando Ti Sento Piangere Sono Felice“, also „Ich bin glücklich, wenn du weinst“, legen diese Annahme nahe. Und doch ist man glücklich, schließlich macht Cerrato gute Musik. Unter dem Namen Petrolio erst seit 2015, zuvor war er bereits auf anderen Pfaden als denen des elektronischen Industrials unterwegs: Metal mit InfectionCode, Jazz-Noisepunk mit Moksa und wiederum Industrial mit Gabbiainferno. Ein Tausendsassa mithin, der seine diversen Erfahrungen hörbar in Petrolio und „Respira“ einbringt. Und jetzt: Atme! Endlich.