Von Matthias Bosenick (17.05.2024)
Ach ja, Pearl Jam gibt es ja auch noch! Neben Mudhoney und, hm, den Melvins die letzten Überlebenden des Seattle-Grunge. Zuletzt waren sie auf Alben eher so mittelmäßig bis langweilig, anders als die Soloalben von Sänger Eddie Vedder, und nach dem eher unterdurchschnittlichen „Giganton“ aus dem Jahr 2020 stand schon zu denken, dass dies der Schwanengesang sein würde. Mitnichten, Pearl Jam sind still alive und reißen sich auf „Dark Matter“ nochmal zusammen, kreieren einige ruppige und einige gefühlvolle Rocksongs, alles ganz ordentlich. Hier noch von Grunge zu sprechen, wirkt anachronistisch und im Vergleich zum 1991er-Debüt „Ten“ auch gar nicht mehr angebracht. „Dark Matter“ ist wunderbar räudig, lediglich das hohe Energielevel plättet den Hörenden auf Strecke – und es wird sich zeigen, wie viele Songs nachhaltig im Gedächtnis bleiben, denn nach den ersten Durchläufen scheinen es nicht so viele zu sein, so gern man das Album auch hören möchte.
Die rockigen Songs rocken, die zurückgenommeneren Songs rocken zurückgenommener, erstere haben Ecken und Kanten, machen keine Kompromisse, knarzen einem mit Wucht ins Ohr, zweitere sind melodisch und energetisch, alle zusammen sind grandios gespielt, da gibt es nix, die fünf oder sechs Musiker können das. Heute ist Pearl Jam ja eine etablierte Rockband mit Haltung, die eben schlichtweg Rockmusik macht. Bisweilen erschleicht einen der Eindruck, sie hätten auf „Dark Matter“ einen Auftrag zu erfüllen gehabt, dem sie eben einfach mal mit Hochdruck nachkommen. Damit erinnern sie stark an die Foo Fighters, die auch fett und kraftvoll rocken, aber keine erinnernswerten Songs mehr kreieren. Nix gegen die bemerkenswerten Einfälle auf dem Album, aber diese Druckdichte strengt ganz schön an, insbesondere der Sound der Drums.
Es gibt trotzdem so einige Stücke, die es hervorzuheben gilt. Gleich der Opener „Scared Of Fear“ bedient den Sound der Pearl Jam von nach der Grunge-Hochzeit, rockig, voller Licks, Breaks und Soli, voranpreschend – ein vielversprechender Auftakt. Dem „React, Respond“ kantigen und sogar noch beschleunigten Knarzrock entgegensetzt, das geht also gut los. Das Gitarrenlick erinnert sogar an den groovenden Funk von den Red Hot Chili Peppers, wow! Als drittes kommt mit „Wreckage“ die erste Powerballade, und eigentlich sind wir da schon durch mit allem. Aber dann kommt der Titeltrack, und der knackt wieder richtig los, ein Riff wie aus den besten Mithüpf-Zeiten wie bei Rage Against The Machine, dazu spannende Breaks, schöne Melodien und überzeugende Aggression.
„Won’t Tell“ klingt in den Strophen derbe nach Neil Young, den Godfather Of Grunge behalten Pearl Jam also deutlicher bei – siehe das gemeinsame Album „Mirrorball“ – als den klassischen Grunge selbst. Das folgende „Upper Hand“ trägt dennoch die Grunge-Gene am stärksten in sich und hätte bereits vor 30 Jahren veröffentlicht worden sein können, im Midtempo, mit Gegniedel und abermals Neil-Young-Riff. Der fuzzy Bass im Bratzstück „Running“ ist dem Noiserock entnommen. „Something Special“ ist ein Glamrock-Schunkler, der nicht so richtig zur Band passen mag. Im Rauswerfer „Setting Sun“ – nicht mit dem Song von The Chemical Brothers verwandt – singt Vedder auf weiten Strecken ohne zu brüllen, da kommt seine Stimme richtig schön zur Geltung.
Hat man die Dreiviertelstunde „Dark Matter“ durch, fühlt man sich überrannt, so druckvoll und energetisch geht die Band selbst in für größere Zerbrechlichkeit geeigneten Momenten vor. Nicht alle Songs zünden, man würde ohnehin die attraktivsten in eine Playlist schieben und sich ansonsten innovativerer Rockmusik zuwenden. Davon sind Pearl Jam 2024 leider etwas zu weit entfernt, und das, obwohl sie vor fast 35 Jahren zu den Innovatoren gehörten. Musikalisch sind sie heute Bediener, nicht mehr Erfinder. Schade!
Ach ja, als Kaufgrund bietet die Band das Album auf CD in einer Buchversion mit zusätzlicher BluRay an, auf der es im „Immersive Mix“ zu hören ist. Ob der taugt, müssen Leute mit BluRay-Playern beantworten.