Von Matthias Bosenick (23.11.2021)
Solche B-Seiten- und Raritäten-Compilations sind ja immer Dienst am Sammler und am Fan, und Nick Cave bietet diesen Dienst jetzt zum zweiten Mal an. Abgedeckt ist der Zeitraum zwischen „Dig, Lazarus, Dig!!!“ 2008 und „Ghosteen“ 2019, also genau der des Wechsels vom physischen Krawall in den transzendentalen Ambient-Trance. Diese Entwicklung bescherte dem Todespoeten eine neue Aufmerksamkeit, doch muss man sich als Altfan damit anfreunden können, dass bei Nick Cave aus dem Rock’n‘Roll ein immerhin kunstvolles, aber ein Wimmern wurde. Die erste dieser Doppel-CD ist für jene die attraktivere, die zweite zwar schön chillig, aber eine Rückkehr zum Krach wäre allmählich echt mal begrüßenswert.
Das war genau die Zeit, als Nick Cave zwischen dem Gospel-Lärm von „Abattoir Blues / The Lyre Of Orpheus“ und „Dig, Lazarus, Dig!!!“ mit seinem Krawallprojekt Grinderman reüssierte, fünf Jahre, in denen Nick Cave sich austobte und Blut und Rotze spuckte und als er mittendrin die erste Sammlung an „B-Sides & Rarities“ veröffentlichte, mit gesammelten Perlen ab knapp nach 1983 bis 2005, verteilt auf drei CDs. Nach „Lazarus“ kam es zu einem weitgreifenden Umbruch, sowohl bei den Bad Seeds als auch in ihrer Musik: „Push The Sky Away“ war überraschend soundscapig, aber nachvollziehbar.
Und dann geschah das Unglück mit Caves Sohn, inmitten der Aufnahmen zu „Skeleton Tree“, das die Trauer aufnahm und auf dem Cave litt und greinte. Verständlich, aber auf Dauer doch eine schwere Kost. Auf dem folgenden „Ghosteen“ setzte er sich indes nicht von dieser Richtung ab, sondern vertiefte sie, und auch das Solo-Album „Carnage“ klingt deutlich weniger blutrünstig, als der Titel es suggeriert. Heißt: Cave jammert, wimmert, wehklagt in hohen Tönen, die einem alsbald Kopfschmerzen bereiten, zu einer körperlos-ätherischen Musik, die sicherlich wunderbar experimentell ist, aber in der Kombination mit dem Gesang nur schwer zu ertragen.
Auf der dieses Mal nur zwei CDs umfassenden neuen Compilation wirkt Cave glücklicherweise noch nicht ganz so erdrückend. Los geht es mit dem fabelhaft rockenden Bandstück „Hey Little Frying Squad“ und dem wunderbar fuzzy Surfnoise „Accidents Will Happen“, also ganz im Geiste von „Lazarus“. Chillig konnte Cave ja schon immer, Leonard Cohens „Avalanche“ etwa erinnert angenehm an die Pianoballaden von „The Boatman’s Call“. Das behutsam tanzbare „Vortex“, wohl der Hit dieser Sammlung, ist ein federleichtes Rockstück. CD 1 schließt mit einer Liveversion von „Push The Sky Away“, mit Orchester und Chor und ständigem „thank you“ des Zampanos.
Die zweite Hälfte eröffnet mit Demos und Unveröffentlichtem von „Skeleton Tree“, diese Stücke tragen noch weit mehr kraftvolle Energie als das ausformulierte Album, ebenso ätherisch, aber weniger weinerlich. Tja, und so geht es dann weiter, milde, sanft, zurückgenommen, beinahe kraftlos, schicksalsschwanger, gebeutelt, gebeugt, resigniert. Gottlob nicht ganz so vertieft wie auf den Alben, aber doch in diese Richtung weisend. Hübsche Sachen sind darunter, „First Girl In Amber“ etwa mag man sich gern anhören, lustiger Titel nebenbei, der eigentlich die erste Version des „Skeleton Tree“-Stückes „Girl In Amber“ benennt. Und doch scheint es, als stecke Cave viel zu tief in der Befindlichkeit und habe er Warren Ellis viel zu freie Hand gegeben. Da ist es nicht verwunderlich, dass er sein jüngstes Album „Carnage“ nicht mehr mit den Bad Seeds, sondern gleich – wie die ganzen Soundtrackarbeiten seit 2005 – als Nick Cave & Warren Ellis herausbrachte. Selbst sein Solo-Piano-Album „Idiot Prayer“ hatte da mehr Biss.
Aber das ist Jammern auf gleichem Niveau. Fandienlich ist die Zusammenstellung der Stücke hier, mit Single-B-Seiten, Bonus-Tracks, Samplerbeiträgen (etwa „Free To Walk“ mit Debbie Harry von den „Jeffrey Lee Pierce Sessions“), exklusiven RSD-Songs und anderen Obskuritäten, die längst unbezahlbar sind. Auch der Einblick in die Demoküche ist natürlich aufschlussreich. Was hier fehlt, ist indes gar nicht so wenig; aber die Sammlung beschränkt sich ja auf alles mit dem Etikett „Bad Seeds“, da gibt es abseits davon noch erheblich zu kompilieren, etwa die neue 7“-Solo-Serie „Cave Songs“, die mit Picture-Vinyls aus dem „Idiot Prayer“-Album begann, die längst zu horrenden Preisen bei Discogs gehandelt werden, und die mit gesungenen Antworten an Fanfragen ihre Fortsetzung fand. Aber Cave veröffentlicht ohnehin so unüberblickbar viel, da ist es auch egal, wenn man etwas nicht hat. Die „B-Sides“ kann man sich besonders im hübschen Schuber ganz gut in den Schrank stellen.