Von Matthias Bosenick (05.12.2023)
It seems like I’ve been here before: Was machen einst erfolgreiche Musizierende, sobald ihr Zenit überschritten scheint? Compilation- und Live-Alben herausbringen, und sobald noch mehr Zeit vergeht, mit erweiterten Reissues der Erfolgsalben aufwarten. Die für Puristen faktisch schon wieder nicht mehr existierenden New Order absolvieren hier alles gleichzeitig: Sie bringen ein Reissue einer Compilation heraus mit einem Live-Album als Bonus. Nun war „Substance“ – den Titel übernahmen sie 1988 für eine Compilation von Joy Division – 1987 wegweisend und die einzige Möglichkeit, den Überhit „Blue Monday“ in Albumform zu erwerben; auch, wer alle Studioalben hat, braucht „Substance“, und auch, wer „Substance“ hat, braucht dieses Reissue, weil die damals nur auf Tape erschienenen Extra-Tracks hier endlich remastert als dritte CD zugänglich sind. Hier lässt sich dreimal der Weg der Joy-Division-Nachfolger vom Wave und Postpunk zur Synthiepop-Disco nachverfolgen. Übergroß, und das, obwohl Bernard Sumner nicht singen kann.
Der Tod von Ian Curtis am 18. Mai 1980 erschütterte die Musikwelt, und diese Erschütterung hallt bis heute nach. Die Band, die er zurückließ, formierte sich kurzerhand um, aus dem Quartett Joy Division wurde das Trio New Order, das die noch für die alte Band komponierte Single „Ceremony“ aufnahm und anschließend das Line-Up mit Keyboarderin Gillian Gilbert auf vier aufstockte. Für „Substance“ nahmen New Order „Ceremony“ als Quartett neu auf, die 2023er-Version nun beinhaltet die Ur-Single zusätzlich auf der dritten CD. So ging es los.
Auch die nächsten Singles „Procession“ (auf CD 2) und „Everything’s Gone Green“ tragen Joy Division noch in sich, mit Peter Hooks weltbestem Bass im Pop, Sumners Gitarre, Stephen Morris’ Schlagzeug und zögerlichem Keyboard-Einsatz. „Temptation“ erfuhr einen Schub in Richtung Disco – und dann krachte die Bombe in die Musikwelt: „Blue Monday“, 1983 ausschließlich als 12“ herausgebracht, die bestverkaufte 12“ aller Zeiten, die trotzdem Verluste machte, weil das Floppy-Disc-Cover mit dem Cut-Out so teuer war. 7:27 Minuten Electro, Synthie-Pop, Proto-Techno, mit Bass und Gitarre subliminal eingearbeitet, die Single-Version will ja keiner haben, die gibt’s auch nirgends, auf keiner der vielen Compilations, auch nicht auf dem Begleitalbum „Power, Corruption & Lies“, auf dem Album ist auch die 12“-Version nur in ausgewählten Varianten enthalten, ursprünglich gehörte es da nicht drauf. „Blue Monday“ geht nur lang. Und es geht bis heute.
Von dort aus ging es im Mix aus Synthie und Rock’n’Roll-Instrumenten weiter, in wechselnder Dominanz, und auch in den Charts schlug sich das nieder, dass die einstigen Postpunks jetzt Pop machten, in Tateinheit mit sarenwama OMD, die seinerzeit mit Joy Division auf Tour waren, Erasure, den Pet Shop Boys, ABC, Spandau Ballet, Eurythmics und weiß der Geier welchen Synthiepophelden noch so. New Order stachen oft aus der Masse heraus, mit Hits wie „Confusion“, dem schief gesungenen und gerade in der langen Version hochgradig infektiösen „The Perfect Kiss“, „Shellshock“, „Bizarre Love Triangle“ und „True Faith“, letzteres abermals nicht auf einem Album zu finden.
Auf der zweiten CD, zu der es 1987 keine Vinyl-Entsprechung gab, finden sich diverse lohnewswerte B-Seiten mit exklusiven Stücken, Instrumental-Versionen und Remixen sowie die beiden A-Seiten „Procession“ und „Murder“. Kaum weniger relevant ist die dritte CD dieser neuen Auflage mit den originalen langen Versionen von „Temptation“ und „Confusion“, schließlich spielten New Order beide Songs für „Substance“ 1987 neu ein, sowie weiteren B-Seiten und Remixen. Das Live-Album, mitgeschnitten in Irvine Meadows California am 12. September 1987, ist eher verzichtbar, bis auf zwei Aspekte: Es bildet die „Substance“-LP komplett in der richtigen Reihenfolge ab und verdeutlicht die Unterschiede und Entwicklungen zwischen Studio- und Bühnenversion.
Von New Order gibt es so viele Reissues und Compilations, dass man nie mit Sammeln fertig wird. Dazu kommt, dass es bei „Substance Unterschiede gibt in der Vinyl- und der CD-Version, da die Vinyl-Version die damals mögliche CD-Spielzeit von 74 Minuten überschritt, weshalb es „The Perfect Kiss“ auf CD lediglich in einer knapp gekürzten Fassung gibt. Ausgerechnet!
Nach „Substance“ folgte mit „Blue Monday ‘88“ ein Update des Megahits, der eine internationale Welle an Neuversionen älterer Klassiker nach sich zog und der es als Singleversion 1994 auf die nächste Compilation „The Best Of New Order“ schaffte, zusammen mit „-94“-Versionen von „True Faith“, „Bizarre Love Triangle“, „1963“ und „Round & Round“. 2002 folgten „International“ mit der Maxi-Version von „Touched By The Hand Of God“ sowie die Box „Retro“, die mit der limitierten fünften CD besonders viele Raritäten beinhaltete, darunter die 17-Minuten-Version von „Elegy“. Auch auf der Doppel-CD „Singles“ aus dem Jahr 2005 fanden sich einige Besonderheiten, vorrangig Radio-Edits, die sich auf keinem Album fanden. 2011 gab es „Total – From Joy Division To New Order“, das der Sammler gar nicht braucht.
Na, und vieles erschien dann auf den Deluxe-Editionen der regulären Alben von New Order auch wieder, und spätestens da streicht der Sammler die Segel. Aber „Substance 2023“ lohnt sich! Und sei es nur für die private Zeitreise, weil es einen in die eigene Jugend und die Radiokultur der Achtziger zurückversetzt. Oder auch nur, weil es verdammt gute Musik enthält.