Von Matthias Bosenick (21.10.2021)
Das ist immer ein Phänomen mit den Manic Street Preachers: Sie bringen Jahr um Jahr neue Platten mit tollen Poprocksongs heraus, und bei jedem neuen Album fragt man sich nach den ersten Läufen, was davon überhaupt hängen blieb, und wenn man es dann unter diesem Aspekt noch einmal auflegt, stellt man fest, dass man alle Lieder längst mitsingen kann, und wenn man dann durch den Tag tändelt und irgendeinen Mancis-Song im Ohr pfeifen hat, weiß man wiederum nicht mehr, ob der jetzt wirklich vom neuen Album ist oder von irgendeinem der drölfzig davor. „The Ultra Vivid Lament“ ist poppig mit Ansage, und wenn man das Überproduzierte satt hat, legt man halt die Bonus-CD mit den reduzierten, aber kaum weniger gigantischen Versionen auf.
Es steigt gleich geil ein: „Still Snowing In Sapporo“ ist einer dieser Songs, die beim zweiten, dritten Hören schon wirken wie alte Freunde. Große Melodien, große Gesten, dickes musikalisches Polster, das nur entfernt noch mit Rockmusik zu tun hat, auch mit der, die selbst die Manics dereinst immer wieder spielten. Also Pop, die Waliser selbst kündigten einen Abba-Einschlag an, und man wundert sich über so eine Aussicht, bis man das Album hört, den dann spürt man es an den entsprechenden Stellen, in Gesangsharmonien und Arrangements sowie insbesondere am vermehrten Einsatz des Klaviers, welchen Anteil die Schweden an „The Ultra Vivid Lament“ in der Tat haben. Schönheit in Musik, trotzdem Anspruch, so machen es beide Bands.
Ab und zu schneit ein Gitarrensolo in einen der Songs, ansonsten stört hier nichts das Wohlfühlen. Erprobt und für gut befunden sind Duette mit Sängerinnen, dieses Mal ist es Julia Cumming von den Sunflower Bean in „The Secret We Missed“, und die Kombi zwischen James Dean Bradfields eher hoher Stimme und ihrem klaren Gesang geht wie immer in solchen Duetten einnehmen auf. Zweiter Gast und ebenso großer Kontrast ist Seattle-Brummer Mark Lanegan in „Blank Diary Entry“, gegen dessen Bassstimme Bradfield klingt wie ein aufgebrachter Chorknabe; der Track ist in sich selbst schon positiv merkwürdig, weil er gegen Ende in einen entschleunigten Sixties-Surf-Song kippt.
An manchen Stellen des Albums übernimmt der Kitsch indes mehr Spielzeit, als man ihm selbst nach „If You Tolerate This Your Children Will Be Next“ bei den Mancis zugesteht. Bisweilen wirkt der Sound derart überproduziert, dass man vor lauter Power dem Pop nicht mehr ganz so genau zuhören mag. Und manchmal denkt man etwas entsetzt an Barclay James Harvest. Für diese Fälle bieten die Manics einmal mehr eine Deluxe-Edition des Albums an mit einer Bonus-CD, auf der die Stücke in Demoversionen zu hören sind, zwei sogar doppelt, nämlich als Homerecordings inklusive Gesang von Gitarrist Nicky Wire. Einigen der Songs steht diese Fassung sehr gut, weil die Mancis auch in der Demovariante groß denken und diese Größe in ihre Songs transferieren. Manche spannende Details fehlen dann zwar, aber dafür hat man dann ja das Hauptalbum. Und manchmal übertreibt es Bradfield etwas mit seiner Stimme, wenn er meint, Textteile kurzzeitig schreien zu müssen; in den ausformulierten Versionen geht das eher im Arrangement unter.
Die beiden Japan-Bonusstücke bekommt man als Deluxekunde übrigens nicht, dafür aber das übliche Buch, dieses Mal mit Fotos von Nicky Wire. Problematisch ist es, die CDs in die Einstecktaschen einzustecken, die sind zu knapp bemessen und lassen sich nur schwer öffnen. So richtig den Jahrestakt halten die Manics natürlich nicht ein, das vorherige Album „Resistance Is Futile“ ist inzwischen drei Jahre alt. Selbstredend schlägt sich der Covid-Lockdown in den Kompositionen nieder, ebenso, dass Bradfield sich in der Zeit das Klavierspiel beibrachte, und auch persönliche Schicksale im Umfeld der Band finden Einzug in die Songs. Daran gemessen, wirkt „The Ultra Vivid Lament“ beinahe milde und positiv. Kämpferisch können die Waliser ja dann nächstes Mal wieder sein. In einem Jahr oder so.