Von Matthias Bosenick (18.12.2017)
Ein Sozialromantiker sei Kommissar Lutter aus Essen, sagt ihm einer seiner Kontrahenten in der zweiten von sechs Episoden dieser Krimiserie, die das ZDF vor zehn Jahren startete. Anders gesagt: Hier schlägt Sozialdavid in allen Fällen den Geldgoliath. Das Ruhrgebiet mit seiner Hauptstadt Essen ist hier mehr als nur Kulisse, die Figuren sind sympathisch, die Fälle weitgehend komplex, Joachim Król als Pottcolumbo ist ein Vergnügen – da sieht man gern über manch deutsche TV-typische Untiefe hinweg.
Hier kommt alles zusammen, was man als Tourist im Ruhrgebiet erwartet: Fußball, Industrie, soziales Ungleichgewicht, „Kääl“ und Currywurst. Geschickterweise kickt Lutter selbst in einer Altherrenfreizeitmannschaft und hängt mit seinem bildungswilligen Kumpel Sunny bei Wirt Höcki in der Kneipe ab, wenn er nicht gerade in Politik und Wirtschaft ermittelt. Sein zumindest einmal wechselnder Assistent deckt den durchschnittlichen Kleinbürger ab, Staatsanwältin und Pathologin sind schwer zugängliche Liebschaften. Die Vorgesetzten sind eher klassisch im Anzug und linientreu dargestellt, dafür ist Kriminaltechniker Sven ein Exot: Er hört Underground-Rockmusik, antwortet auf „danke“ mit „pleasure“ und füttert die Kröten in seinem Laborterrarium mit lebenden Regenwürmern. Lauter Typen, die man ins Herz schließt und die überraschend treffsichere Dialoge austauschen, häufig eben typisch Pott.
Auch die fallspezifischen Randfiguren sind zumeist gut ausgearbeitet. Ein Zuhälter mit Wiener Dialekt, ein mittelkrimineller Knasti mit kodderiger Angeberattitüde, das renitente Immobilienopfer mit Kampfeswillen. Viele sind sogar attraktiv prominent besetzt: Cosma Shiva Hagen spielt eine Gefallene, die auf Biobäuerin umschult, der großartige Jürgen Tarrach einen Autohändler, der sich um das Wohl seines Fußballvereins sorgt, Armin Rohde einen schmierigen Juwelenhehler mit Gewalttendenzen. Sie alle heben den Durchschnitt an, und das ist nötig, denn es gibt in der Serie leider auch Kollegen, die ihn nach unten reißen: Einige Figuren sind zu überzeichnet, zu hölzern oder zu konstruiert, um zu überzeugen, doch da die Geschichten und der ganze Rest stimmig sind, steckt man das gern weg.
Ebenso die Filmkunst. Man erlebt einen Wechsel in der Gestaltung ab der dritten Episode. Die ersten beiden erinnern stilistisch grob an „Se7en“, mit verlangsamten oder beschleunigten Passagen und ästhetisch glühenden Übergängen. Diese Experimente unterbleiben fürderhin, die Filme tragen wieder den noch deutlicheren TV-Charakter. Dafür wagen die Macher ab Folge fünf spannende Kamerafahrten, die man eher im Kino erwartet.
Ein bisschen wundert man sich über die Ausgestaltung der Nebenfiguren in Lutters Kollegenkreis. Sein leicht schmieriger Assistent Bergmann steht ihm nur in den ersten beiden Filmen zur Seite, ihn ersetzt Engels (beide heißen Michael, übrigens), den sein junges Familienglück auf beinahe nervende Art von der Arbeit abhält, womit Lutter aber souverän grimmig umgeht und was Engels mit überraschender Fachkompetenz wettmacht. Kein so flacher Charakter, wie es zunächst scheint. Anders ist es bei der Staatsanwältin Deniz, mit der Lutter anscheinend etwas hatte, was sich in Film fünf aber zerfasert und was, angelegt im vierten Teil, zuletzt in ein latentes Interesse an der Pathologin Sina mündet. Konstant authentisch agieren Lutters Kneipenkumpels; Sunny gerät einmal sogar selbst ins Zentrum der Ermittlungen und wird im nächsten Film Privatdetektiv.
Die Geschichten selbst sind angenehm vielschichtig, bis auf die dritte, und spannend. Lutter assoziiert sich mit Groll und Nonchalance gleichermaßen durch die Erkenntnisse, die seine Kollegen und er so zusammentragen, und ermittelt sich vom Hölzchen zum Täter. Sobald diese unter Reichen und Politikern zu finden sind, fühlt man sich inhaltlich an skandinavische Krimis erinnert. Blut fließt hier indes etwas weniger, aber dennoch amtlich genug. Angenehm ist im Zusammenhang mit der Explizität, dass die Macher die Episode, die auszugsweise im Rotlichtmilieu stattfindet, nicht für schmierige Altherrendarstellungen missbrauchen, sondern beim Thema bleiben.
Und Joachim Król ist natürlich super. So manches Mal nimmt man ihm seine Rolle nicht ab, das zeichnet ihn als Schauspieler beinahe aus – niemand sonst ist augenscheinlich so wenig souverän und doch so authentisch und liebenswert. Sein Lutter, laut Info Mittelhochdeutsch für „lauter“, „hell“, „rein“, „sauber“, hat das Herz auf dem linken Fleck und ist auch als Staatsgewalt einer von den Guten. Unbestechlich, unkorrumpierbar, geradeheraus, seiner Sache treu bleibend. Und lustig, wenn er die Egozentrik und die Dummheit der Anderen entlarvt. Oder einfach nur überhaupt kommuniziert. „Halt mal mein Bier warm“, „Der mag Schmerzen, der spielt linksaußen“: Bonmots liefert Lutter zuhauf. Und Essen ist auch schön, so mit Zollverein und Baldeneysee.
„Lutter“ kann man sich bestens angucken, darf aber kein Kinoformat erwarten. Fürs Fernsehen ausgezeichnet, und mit den ganzen herzensguten Figuren auch etwas, in das man gern abtaucht. Und am Ende sitzen wir alle bei Höcki auf ein Bier. Alle sechs Filme, gedreht zwischen 2006 und 2010 (schon seltsam, dass die damals noch keine Smartphones hatten, ansonsten aber technisch nicht dem Jetzt hinterherhinken), gibt‘s ohne Extras auf drei DVDs.