Von Guido Dörheide (17.11.2022)
Ich gebe zu, es war der Name der Band, an dem ich zuerst hängen blieb, als ich im Internet die Metal-Neuerscheinungen durchsah. Vermutlich bekommen Lost In Kiev seit Kriegsbeginn haufenweise Aufmerksamkeit, die sie so, also aus diesem Grund, wahrscheinlich niemals haben wollten. Lost In Kiev sind aus Paris, existieren seit 2007 und machen Post-Rock bzw. Post-Metal, und das zumeist instrumental. Als Gesamteindruck stelle ich fest (und ich gebe zu, dass ich mich mit reiner Instrumentalmusik nicht wirklich auskenne), dass mich die Musik und auch irgendwie die ganze Stimmung an das erinnern, was Die Haut in den 90ern gemacht haben, ohne jetzt aktuell in deren Werke nochmal reingehört zu haben. Bauchgefühl, Baby. Was mich aber alles schon mal sehr für Lost In Kiev einnimmt.
Das erste Stück „We Are“ erstreckt sich gleich über knapp 7 Minuten, baut sich langsam auf und erzeugt so für Neu-Hörende wie mich eine ungeheure Spannung auf das, was mich in den nächsten knapp über 50 Minuten erwartet. Zunächst erwartet mich ein langsames, schleppendes Schlagzeug, um das herum sich melodische Gitarrenmelodien (man erkennt sofort, dass es sich nicht nur um eine einzige handelt) aufbauen, und je mehr diese an Lautstärke hinzugewinnen, umso kräftiger donnert das Schlagzeug. Dann wird es wieder leiser, aber auf diese spezielle Art und Weise, die verheißt, dass noch etwas wirklich Schlimmes bevorsteht. Aber nichts dergleichen – die ursprüngliche Melodie wird wieder aufgegriffen, mit mehr Gitarrenimprovisation drumherum und das Schlagzeug bekommt mehr und mehr Raum und sorgt bei mir für Begeisterung. Es tut mir ja fast schon Leid, dass ich in letzter Zeit andauernd das Wort „hypnotisch“ verwende, aber hier passt es mal wieder. „We Are“ zieht mich mehr und mehr in seinen Bann, wird musikalisch immer dichter, lauter und ja, auch härter, und mehr und mehr hoffe ich, dass nicht irgendwann die schöne Stimmung durch einen Sänger gestört wird. Was auch tatsächlich erst im zweiten Stück passiert: Lost In Kiev haben Loic Rossetti von den überragenden The Ocean verpflichten können, auf dem zweiten Stück, „Prison Of Mind“, Gesang beizusteuern. Das Stück beginnt mit einer ruhigen Gitarre und einem von Anfang an mehr als auf dem Opener donnernden Schlagzeug, und dann fängt Rossetti auch unmittelbar mit dem Beisteuern an. Und das haut super hin: Zunächst Klargesang (erinnert mich an TesseracT, ich weiß nur nicht, mit welchem Sänger), und mit zunehmender Intensität des Gesangs steigern sich auch die Instrumente, bis Rossetti schließlich screamt und growlt, Gitarren, Bass und Schlagzeug ein wahres Pandemonium abliefern, und auf einmal ist es wieder ruhig und Rossetti singt klar weiter, als ob nichts gewesen wäre. Dieses Schauspiel ziehen Band und Sänger dann nochmal ab und es langweilt nicht, sondern die Hörenden können jede Sekunde genießen. Nach gut 11 Minuten haben Lost In Kiev mich damit schon auf ihre Seite gezogen und ich freue mich drauf, wie es dann instrumental weitergeht.
Und das tut es sehr gut und sehr überzeugend: Ohne Sänger liefern sich die Gitarren so manche ergiebige Diskussion mit dem Schlagzeug, dieses Sich-Steigern innerhalb des Songs, dann wieder in sich zusammenzufallen, um sich dann wieder zu steigern, zieht sich wie ein roter Faden durch das Album und funktioniert durchweg, ohne jemals zu langweilen. Das schaffen Lost In Kiev, indem sie nicht immer dasselbe machen, sondern bei jedem Auf und Ab innerhalb der Songs neue Dinge einbauen, an denen das Ohr der Hörenden unweigerlich hängenbleibt. Ganz oft ist es das Schlagzeug, dass kurzzeitig aufhört, einfach nur den Rhythmus für den sich stetig steigernden Wall of Sound der Gitarren abzuliefern, sondern auf einmal ausschert, einige schnelle, unterhaltsame Kapriolen zum Besten gibt und dann wieder seinen Platz in der Rhythmusabteilung einnimmt, als wäre nichts gewesen.
Nach diesem Schema geht es weiter und weiter – ja, ich denke schon, Lost In Kiev arbeiten bis zu einem gewissen Maße nach einem Schema – und ich bin der Meinung, so könnte es von mir aus ruhig ewig weitergehen. Die zweite Hälfte von „Another End Is Possible“ klirrt (Gitarren) und poltert (Schlagzeug) wunderbar hypnotisch vor sich hin, und dann auf einmal: „But You Don‘t Care.“ Der Song beginnt mit Schlagzeug, Bass und Gitarre und auf einmal gesellt sich ein Synthesizer hinzu, spielt sich mal in den Hinter- und mal in den Vordergrund und dient so als wunderbar funktionierendes Bindeglied zwischen den melodisch-kreischenden Gitarrenparts. In der zweiten Hälfte des Songs wird das besonders deutlich und funktioniert ganz wunderbar.
Auch auf dem folgenden „Solastalgia“ sorgt ein Synth für so manchen Krautrock-Moment und gegen Ende erzeugen die Gitarren eine wahrlich beeindruckende Wall of Sound.
Das würde bis hierher schon für ein beeindruckendes Album langen, aber Lost In Kiev machen noch knapp 20 Minuten weiter, auf ebenso hohem Niveau wie dem bisher beschriebenen. Bei „Digital Flesh“ kriegt dann auch endlich mal der Bass so viel Raum, wie er braucht, bevor wieder die Gitarren alles in Grund und Boden spielen.
Ich bin es eigentlich gewohnt, dass immer Gesang zur Musik dazugehört und diese über weite Strecken auch definiert – Lost In Kiev liefert ein überzeugendes Beispiel, dass es nicht immer eine Stimme braucht, um zu begeistern.