Von Chrisz Meier (26.11.2025)
Hallo. Ich bin Chrisz Meier und arbeite bei einem Bürgerradio in Südwest-Niedersachsen. Der Sender bekommt ständig Promo-CDs zugeschickt, die niemand verlangt hat und um die sich niemand kümmert. Diese CDs landen dann mitsamt ihrem Beipackzettel der Plattenfirma, auf der die jeweilige Band stets als die Neuerfinder der Musik gepriesen wird, in einer schmucklosen Ablage, beschriftet mit „Zum Mitnehmen“. Einige der bei dem Sender ehrenamtlich Tätigen, Betreiber ihrer eigenen Radioshows, bedienen sich daraus, vieles bleibt aber dennoch liegen. Diese Liegengebliebenen durchforste ich in unregelmäßigen Abständen, immer auf der Suche nach unentdeckten Perlen – nicht zuletzt deswegen, weil ich, selbst Teil einer Band, der keinerlei Beachtung entgegengebracht wird, es ungerecht finde, diese mit viel Herzblut und Zeit hergestellte Musik einfach zu ignorieren.
Also werde ich an dieser Stelle hin und wieder ein paar dieser Liegengebliebenen vorstellen. Und heute sollen es diejenigen sein, die es in meine Sammlung geschafft haben und für mich als unverzichtbar gelten.
Schon vor etlichen Jahren fiel mir das Album „Shotgun Singer“ der Singer/Songwriterin Kris Delmhorst in die Hände, weil niemand diese unverlangt eingesendete CD haben wollte. Dem Genre kann ich ansonsten nicht so viel abgewinnen und war skeptisch. Während einer langen, nächtlichen Autofahrt hörte ich dann das gesamte Album durch – und war nach wenigen Sekunden hin und weg. Schon nach ein paar Takten des Openers „Blue Adeline“ wurde der Song eines meiner absoluten Lieblingslieder of all times. Kris Delmhorst hat eine sanfte, unaufdringliche und sehr schöne Stimme und sie vermeidet es gekonnt, ausgetretenen Songwriter-Pfaden zu folgen. Ihre Songs sind zwar einfach, aber nicht simpel und vor allem nicht vorhersehbar. Da passiert schon so einiges, was auch an den Arrangements liegt. Ein sparsames, nicht auf Effekthascherei ausgelegtes Schlagzeug unterstützt die Songs, bei denen viele unterschiedliche Instrumente zum Einsatz kommen – aber nie zu viele auf einmal! Dazu klingt es, als ob „Shotgun Singer“ in einer Blockhütte in den Bergen eingespielt worden wäre. Die Grundstimmung des Albums ist vorwiegend melancholisch, auch wenn hier und da mal eine fröhliche Melodie eingebaut wird. Auf der anderen Seite sind einige Lieder so traurig, daß sie mich jedesmal zu Tränen rühren. Generell passt diese Platte perfekt zum November/Dezember, zum allein sein, zu Dunkelheit, Kerzenlicht und Whisky. Eine absolute Empfehlung für alle, die es auch mal leise mögen – und gerne mal Gänsehaut beim Hören eines Songs bekommen.
Kris Delmhorst: Shotgun Singer
CD only
Signature Sounds Recordings (2008)
In eine ähnliche Kerbe haut auch Andi Almqvist mit seinem Album „Red Room Stories“ von 2007. Aber während Kris Delmhorst eine zwar melancholische, aber dunkle, warme Stimmung verbreitet, ist es bei Almqvist Düsternis. In den sparsam, aber sorgfältig arrangierten und orchestrierten Songs bekommen Traurigkeit und sogar Verzweiflung ihren Platz zum Ausbreiten. Nur hier und da bricht mal ein Sonnenstrahl durch. Das Schöne an dieser Scheibe des schwedischen Singer/Songwriters ist, daß nichts aufgesetzt wirkt. Man nimmt Andi Almqvist das ab, wovon er, z.B. in „Katzenjammer“, singt. Über Liebe, die nicht funktioniert, und den Tod. Zur Musik ist zu sagen, daß in den „Red Room Stories“ auch mal Streicher zu hören sind, was den Songs dann die nötige Portion Pathos verpasst, ohne schmalzig zu werden. Man sieht Almqvist geradezu vor sich: In einer Bar nachts um zwei, allein auf einem Barhocker am Tresen, die fast leere Flasche Rotwein vor sich, Kippe im Mundwinkel. Ich höre den Zwischenruf „Klischee!“ Richtig, aber ein gutes. Wer möchte nicht mal dieser Typ sein? Wer sich mit diesen Bildern anfreunden kann und zudem vielleicht auch noch auf Nick Cave und Tom Waits steht, sollte auch mit Andi Almquist klarkommen.
Andi Almqvist: Red Room Stories
CD, Digital
Rootsy (2007)
Und nun zu etwas völlig anderem und zu einem guten Beispiel, wie vielfältig, abwechslungs- und facettenreich Musik sein kann. Das Trio Tschaika 21/16 veröffentlichte 2021 das Album „Prinzessin Teddymett“ – und keiner wollte es haben. Die Kapelle war mir vorher schon bekannt gewesen durch ihren Hit „Man nennt sie Nancy“ sowie dem goßartigen Video dazu. Nun also ein komplettes Album der drei durchgeknallten an Gitarre, Schlagzeug und Trompete/Gesang. Das wäre schon eine krude Instrumentierung, wenn man „normale“ Musik machen wollte. Tschaika 21/16 aber haben ihren Bandnamen in lautmalerische Rhythmik umgesetzt, und so trifft unzählbar auf nicht-zum-mitwippen-geeignet, treffen 21 Sechzehntel auf „TSCHAIKA“-Gitarren. Für Ungeübte bleibt es ein unlösbares Rätsel, wie sie dabei immer wieder auf den Punkt genau zusammenfinden. Damit wir uns nicht mißverstehen: Das ist kein atonales Dissonanzgewitter, was uns hier präsentiert wird. Es ist im Gegenteil super durchdachte Struktur, allein, was die Trompete an teil mehrstimmigen Bläsersätzen abliefert, ist hohe kompositorische Kunst. Aber eingängig wird es trotzdem nicht. Gewürzt wird das Gesamtwerk mit (Ostberliner?) Humor. Die Songs heißen „Prinzessin Ausbaus Argwöhnische Ornithologie“, „KitaHupe vs. Flipper am Limit“ oder „Kekse kaputt“. Zwischen den einzelnen Liedern hört man O-Ton-Splitter aus dem Proberaum/Studio, das ist alles schon sehr skurril. Und dann wäre da auch noch das Video zum Titelstück „Prinzessin Teddymett“. Verstörend, aber mit Happy End. Die Scheibe ist bestens geeignet für alle, die mal was Neues ausprobieren wollen.
Tschaika 21/16: Prinzessin Teddymett
CD, LP
Noisolution (2021)
Dem Einsatz von Saxophonen gegenüber bin ich meist skeptisch. Ja, das Instrument kann schön klingen und wunderbare Melodien zaubern, wie in den Stücken mit Stan Getz. Es kann aber auch nervenzerfetzenden Lärm produzieren, wie bei so gut wie allen anderen Saxophonisten. Von daher war meine erste Reaktion nach den ersten 73 vielversprechenden Sekunden des Albums „Zenith“ von Poly-Math, als besagtes Instrument nämlich einsetzt, ein Schock. Ach du meine Güte! Muß das sein?!? Im weiteren Verlauf stellte sich dann aber heraus, daß so ein Saxophon auch mal songdienlich sein kann und sich nicht immer nur in den Vordergrund spielen muß. Und das im Genre Math-Rock. Poly-Math machen ihrem Namen alle Ehre und spielen polyrhythmisches, schwer zählbares Zeug mit Schlagzeug, Bass, Gitarre, Orgel und Saxophon – und das rockt wie Sau, Mann!! Kaum zu glauben, aber wahr: Die druckvolle Produktion, die grandiose Rhythmusgruppe und das pure Muskelfett, das da aus den Rillen quillt, verlocken zum Headbangen, auch, wenn man bei den krummen Takten nicht immer auf der Eins landet. „Zenith“ wird bei jedem Durchlauf zugänglicher, bis die acht Songs irgendwann zu Freunden geworden sind. Und daß hier niemand singt, merkt man erst ganz zum Schluß. Für kommendes Jahr ist eine neue Scheibe angekündigt und ich bin gespannt.
Polymath: Zenith
CD, LP, Digital
Nice Weather For Airstrikes (2022)
Für Menschen mit einigermaßen intakter Psyche ist komplexe Musik Futter fürs Gehirn. So richtig satt wird man mit diesem Album aus dem hohen Norden. Wieder einmal könnte man neidisch werden auf die Dichte fantastischer Musiker, die das dünn besiedelte Norwegen aufbieten kann. Dort, in Bergen, haben sich gleich sechs dieser Begnadeten gefunden und zusammengetan, um Seven Impale zu gründen. (Und Achtung: auch hier spielt das Saxophon tragende Rollen, ohne zu nerven!) Ziel der sechs wurde es, progressiven heavy Jazzrock zu spielen. Wie drauf muß man bitteschön für sowas sein?! Progressive heavy Jazzrock! Wo andere vier verschiedene Bands daraus machen, kloppen Seven Impale alles zusammen und kochen daraus, siehe oben, ein nahrhaft Süppchen. Auf dem 2023 erschienenen Album „Summit“ finden sich vier Stücke, in welchen die Bestandteile „progressiv“, „heavy“, „Jazz“ und „Rock“ allesamt ernst genommen werden. Stellenweise sehr ernst, mit wütenden, furiosen Blastbeat-Attacken. Auf diese Art und Weise schaffen sie es, Freunde gleich aller vier Genres zu vereinen. Clever! Und so wird diese Platte auch nie langweilig, auch beim x-ten Durchhören nicht. Vergleiche fallen mir keine ein, dafür ist mir das Genre etwas zu fremd. In ihrem Heimatland dürften die sechs wohl ziemlich einzigartig sein. Aber wer weiß? Wahrscheinlich tun sich gerade in irgendeinem Kaff unter dem Polarkreis fünf pickelige Teenager zusammen und gründen eine Stoner-Ska-Kapelle. Mit Ukulelen.
Seven Impale: Summit
CD, LP, Digital
Karisma Records (2023)





