Von Guido Dörheide (19.02.2022)
Damals, als die deutsch-deutsche Grenze schon gefallen war, es die DDR aber noch gab, hörte ich gerne Sendungen im West-Radio, in denen DDR-Bürger das Programm gestalten konnten. Ich war Wessi, aufgewachsen in Sichtweite der Grenze, und lernte dadurch Songs kennen wie „E.S.T. – Trip To The Moon“ von Alien Sex Fiend (ja, das kannte ich vorher nicht!) und „Irrenhaus“ von Keimzeit. Und dachte bei zweiterem, das wäre unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR geschrieben worden. „Irre ins Irrenhaus, die Schlauen ins Parlament – Selber schuld daran, wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt“, das schrie förmlich danach, war aber schon vor Gorbatschows legendärem „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ (was er wohl tatsächlich nie gesagt hat, aber zumindest trotzdem aus 1989 stammen soll) geschrieben worden, und Norbert Leisegang, der dieses Monument von einem Song getextet und gesungen hatte, sagte später in Interviews, dass er beim Schreiben des Songs tatsächlich keinerlei Ende der DDR im Sinn hatte.
Einige Jahre später hat Leisegang dann wieder den richtigen Riecher und schuf mit „Kling Klang“ einen Song, der sowohl dem individualistischen Singer/Songwriter-Enthusiasten (also mir) als auch dem „Wir hören PUR, weil die so schlaue Texte machen und obendrein eine exzellente Liveband sind“-Partyvolk in den Dörfern des Westens gerecht wurde, und machte Keimzeit damit für alle Zeiten unsterblich. Für weniger als alle Zeiten unsterblich wäre wohl auch kaum unsterblich.
Und das Tolle ist – Keimzeit gibt es immer noch, Norbert Leisegang ist mit Anfang 60 immer noch ein bodenständiger Sympath, der immer noch tolle Songs schreibt, sein Bruder Hartmut ist immer noch mit von der Partie und Keimzeit gibt es jetzt schon seit 40 Jahren. So alt wird kein Schwein, sage ich immer.
Und – die Musik klingt so wunderbar „handgemacht“ (komplett bescheuertes Etikett, wenn ich die Hand an den Computer tue und darauf Musik mache, ist das genauso handgemacht, als wie wenn ich zur E-Gitarre oder – jawoll – zum E-Bass greife) wie ehedem, bzw. wie seit einigen Jahren wieder. Also ehrlich, für „handgemacht“ könnte ich mich ohrfeigen, aber leider steht das jetzt da und lässt sich nicht mehr löschen. Zur Strafe schreibe ich 100 x „Kraftwerk ist genauso geil wie die Puhdys“ in meine Kladde.
Was es – glaube ich – ist, was mich gleich bei den ersten Sekunden des ersten Stücks („Plastiktütenmann“) in den Bann zieht, ist dieser warme Sound, Leisegangs unaufgeregter Gesangsstil, dieses Sammelsurium an wunderschön miteinander harmonierenden Instrumenten, und dann dieses „allein die Vorstellung strengt mich an, wie man ganz ohne was zu sammeln überhaupt existieren kann“, und ich finde, da zeigt sich, dass Leisegang immer noch ein Titan des Texteschreibens ist. Und sein Gesang ist immer noch unverwechselbar, wenn auch weniger nölend und Rio-Reiser-like als früher, was ich aber eher als Pluspunkt verbuche als als alles andere.
Das klingt jetzt wahrscheinlich bescheuert – aber ich habe auf dem neuen Keimzeit-Album nichts gefunden, was mich stört. OK, einmal „aufgehangen“ statt „aufgehängt“, aber ansonsten passt wirklich alles: Musikalisch über jeden Zweifel erhaben, absolut unpeinlich getextet, souverän und mit schöner Stimme gesungen, und ja, verdammt: Keimzeit sind auch im Jahr 33 nach der Wende noch da, und sie waren vorher schon da und die Wende ist immer noch eines der großartigsten Dinge, die meine Generation miterlebt hat. Und Keimzeit sind weder DDR- noch BRD-Band, sondern einfach immer noch großartig. Da können sich manche vermeintliche Deutschrock-Helden ein verdammt großes Stück abschneiden. Und zwar immer schön seitlich, wie beim Baumkuchen.