Kaltmiete – 300,- DM inkl. NK – Bauchpfannen Aufnahmen 2022

Von Matthias Bosenick (23.01.2023)

Das ist nun wirklich ein Fest: Das Label Bauchpfannen Aufnahmen bringt das Debüt, Demos, Samplerbeiträge und Singles der damals von Fachpostillen wie Intro und Visions gefeierten Braunschweiger Indierockband Kaltmiete neu als Doppel-CD heraus (im Stream sind die Songs der Bonus-Demo-CD nicht enthalten – physisch kaufen ist also ein Muss!). Was für Ohrwürmer, was für eine Zeitreise: „Halbbesoffen ist weggeschmissenes Geld“, „Der fette MC hat mein Leben zerstört“, „Ich wär‘ so gerne Bassist in einer amerikanischen Indierockband“ – Hits über Hits aus der Zeit zwischen 1996 und 1998, zwischen Black-Sabbath-Doom, Ska, Noiserock, Riffrock, Hardcore, Punk, Indierock und Crossover. Mit Humor, einer vereinzelten Flöte und dem Wunsch nach einer zusätzlichen Live-CD mit den fehlenden Songs aus den Jahren 1999 und 2000. Und einem dritten Album von Kaltmiete überhaupt, das zweite, „Auf Wiedervorlage“, ist auch schon wieder acht Jahre alt!

Klassisch aus Gitarre, Bass und Schlagzeug besteht das Powertrio Kaltmiete, muss man wohl so sagen, und ist gesegnet mit einem Sänger, dessen Stimme und Stil unverwechselbar sind. Heinrich von Kaltmiete, so sein als Standortbestimmung ebenso tauglicher Künstlername, setzt es wahlweise genreunterstützend ein oder so, wie es nur bei Kaltmiete funktioniert, wenn er seine Beobachtungen und Sottisen scheinbar gelangweilt, aber mit klarer Stimme herunterleiert, grandios. In den Texten handelt er ungefähr Alltägliches ab, und zwar mit einem Sprach- und Humorverständnis, das nicht von Ungefähr dem der seinerzeit zeitgleich aktiven Trottelkacker nahe steht – nicht zufällig erscheint dieses Rerelease auf deren Label Bauchpfannen Aufnahmen, richtet sich das hier nicht enthaltene „Guten Tag, Herr Nesselhag“ an einen Trottelkacker-Musiker, coverten Müller & die Platemeiercombo 2003 auf der B-Seite ihrer Single „Die große Kotelettsafari“ den Hit „Halbbesoffen ist weggeschmissenes Geld“ – bei jenem Müller wiederum handelt es sich um, genau, den bereits erwähnten Herrn Nesselhag – und haben sich die Trottelkacker 1999 für ihren Albumtitel „J’aime le Rock“ möglicherweise vom 1996er-Kaltmiete-Song „Je suis le Rock“ inspirieren lassen.

Einiges würde heute sicherlich von Moralhütern nicht mal mit der Kneifzange angefasst werden; „Der fette MC hat mein Leben zerstört“ beinhaltet Fatshaming nach schlimmer Westernhagen-Manier und basht auch noch den Hip Hop, was insofern okay ist, als dass Hip Hop sich bereits selbst ja nur basht, disst und wie auch immer das heute so heißt, und als dass außerdem Kaltmiete im Crossover-Hit „Ochsentag im Atlantis“ und im Reggae-Funk-Hip-Hop „In der Praxis von Dr. Sommer“ selbst rappen. Musikalisch ist der Song über den „Master Of Ceremonies“ selbst nun richtig geil, ein epischer Doom-Rocker, mit elegischem Solo, Aggression, schleppend gerifft, feinsinnig anklagend formuliert: „Der Typ weiß nicht, was sich gehört.“ Auch über Songs wie „Drogenkinder“, „Ich bin die Bedienung einer Pornovideothek“ oder „Frau aus Bier“ lassen sich heute aus dem unterschiedlichsten Gründen manche Nasen rümpfen, aber in den Neunzigern eben noch nicht. Heute schluckt man beim Wiederhören vielleicht dreimal, bevor man sich den Riffs hingibt. Da man es hier jedoch sowohl bei den Musikern als auch bei den zu erwartenden Hörenden mit aufgeklärten Leuten zu tun hat, die Satire auch ohne Erklärung als solche zu identifizieren in der Lage sind, braucht es bei der Neuauflage keinen Disclaimer.

Quer durch alle enthaltenen Genres erstaunt es, wie viel Druck diese drei Typen hier machen. Damals gehörten Heinrich von Kaltmiete mit Gesang und Gitarre, Krusty am Schlagzeug sowie Martin am Bass zur Besetzung, letzteren ersetzt Pawel seit der Reunion 2015. Wie sattelfest sie sich durch all die Stile winden! Das Spektrum spiegelt den Alternative-Stil der Neunziger stark wieder, da waren Kaltmiete seinerzeit zu Hause, also in der ganzen Welt, denn Grenzen kannten sie so gut wie keine. Techno fehlt, stattgegeben. Für den fett ausformulierten Sound sorgte auf dem Album „300,- DM“ Elmar Gajewi, heute Chef von Der Meer; zum Vergleich ist der CD das erste Demo beigefügt, das wie dieses Rerelase noch Tom Stach von Murder At The Registry verantwortete und auf dem dem Sound noch die Ziselierungen fehlen, das mithin handfest rockt. Und einige Song-Abweichungen vom Album aufweist, auch wenn die Überschneidungen überwiegen; es lohnt sich unbedingt, sich die Doppel-CD zuzulegen.

Als weitere Bonüsse, also Nebenkosten, enthalten die CD mit dem Album und also der Stream auch die Stücke der Compilation „Best Of BS“, „Actionman“ und „Schön, wenn sowas kein Problem ist“, sowie die hymnische Jangle-Noise-Single zur Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 1998, „Kaltz – Flanke, Hrubesch – Tor“. Letztere jedoch nur in einer Version, die Single enthielt seinerzeit zwei. Es gibt Material also für eine Fortsetzung, und betrachtet man die Webseite von Kaltmiete, steht da noch viel mehr aus: Es existieren Livemitschnitte komplett neuer Stücke, darunter der Gassenhauer „Ich habe selten so gelacht wie letzten Samstag in Geesthacht“.

Gott, ist das alles schön! Mit dem „Scha-la-la-la“ der Fußballhymne gleitet man entspannt durchs Leben – oder legt wahlweise die erste oder die zweite CD gleich nochmal auf. Man kann sich gar nicht entscheiden, welche Version man lieber hat, auf welcher CD der Wumms größer ist, umso besser, dass man dann einfach beide besitzt. Und, liest man die Webseite aufmerksam, bleiben weitere Fragen offen: Was hat es mit der Compilation „Exakt invers“ aus dem Jahr 1998 auf sich? Und was mit „Die neue 14“ aus dem Jahr 2014, die dort mit dem Song „Am Meer“ aufgeführt ist? Vermutlich das damals noch unbetitelte Album „Auf Wiedervorlage“, und ja, das ist ebenso ein Burner wie „300,- DM“. Wird Zeit für neuen Stoff, Jungs!

[Edit 24.01.2023] Der besagte Herr Nesselhag weist mich dankenswerterweise darauf hin, dass ich mich doch besser auf mein CD-Regal verlassen sollte als auf mein Gedächtnis. Das 1999er-Album der Trottelkacker heißt natürlich „Gut“, „J’aime le Rock“ war lediglich der 11. Track darauf, und tatsächlich soll „Je suis le Rock“ von Kaltmiete eine Antwort darauf sein, verriet ihm Heinrich von Kaltmiete, nicht umgekehrt. Danke, lieber Herr Nesselhag!