Von Guido Dörheide (28.05.2024)
Am 11. Mai befahren die Liebste und ich mit dem Fahrzeug die Harzautobahn in umgekehrter Richtung. Nicht etwa als Geisterfahrende, sondern durchaus auf der korrekten Fahrspur in Fahrtrichtung Norden. Ziel unseres Weges ist Braunschweig, eine von amüsant-charmanter Selbstüberschätzung geprägte Bier-, Fußballtraditions-, Löwen- und Universitätsstadt, die mit Unterbrechungen ein Vierteljahrhundert lang meine Heimat war. Nun also mal die Okermetropole als Tourist bereisen, mit Lost-Place-Begucken, Pizza bei meinem Namensvetter in der Neuen Straße (Immer wieder preisgünstig & lecker, und bei der Höllenpizza wird man gefragt, ob man sie „so, wie sie ist“ oder weniger scharf haben wolle. „So, wie sie ist“ macht sie fürwahr ihrem Namen alle Ehre.) und dem Besuch einer Veranstaltung aus der Reihe „Mordsgeschichten auf der Oker“ (Infos und Reservierung unter https://www.okertour.de/klassiker/reservierung-mordsgeschichten-auf-der-oker) als krönendem Abschluss.
Zu sehen und zu hören gibt es die in Goslar aufgewachsene Braunschweiger Autorin Julia Annina Jorges, die mit leiser, aber eindringlicher und allzeit gut zu verstehender Stimme zunächst die Kurzgeschichte „Zwischen zwölf und Mittag“ und dann Auszüge aus ihrem aktuellen Roman „Hochmoor“ liest.
„Zwischen zwölf und Mittag“ stammt aus dem Buch „Symbiose“ (erhältlich bei Amazon), das sechs Geschichten von Julia A. Jorges enthält, die zuvor im Horrorliteraturmagazin „Zwielicht“ veröffentlicht wurden. Die Geschichte spielt in einer dystopisch-orwellianischen Gesellschaft, in der es keine Unterhaltungsliteratur gibt und der Staat sich aufopfernd um seine Bürger:innen kümmert, indem er sie überwacht, einengt und im Falle drohenden Abweichlertums brutalstmöglich bestraft. Die Protagonistin arbeitet in einer Behörde und ist für die Ablehnung von Anträgen auf einer sozialen Leistung, der sogenannten Bürgerunterstützung, zuständig. Im Zuge dieser Tätigkeit gerät sie mit dem Chef aneinander, lernt einen Mann kennen, macht eine Erbschaft von großer Tragweite und kommt dem Geheimnis des Verschellens ihres Ex-Partners auf die Spur. Die Auflösung des Ganzen fesselt und verstört gleichermaßen und wird ganz wunderbar erzählt. Jorges’ Stil ist vollkommen unverschnörkelt, lebendig, anschaulich und ungemein fesselnd, und der trockene und unaufgeregte Vortrag tut sein Übriges dazu.
Derart eingestimmt, ist die Rückfahrt von den Tiefen des Bürgerparks zurück zum OkerTour-Anleger den Auszügen aus „Hochmoor“ gewidmet. Inzwischen ist es dunkel, und Julia A. Jorges nimmt uns mit nach Goslar, was ja an sich schon auch irgendwie dunkel ist, hätte ich jetzt fast geschrieben, und stellt uns Olve vor. Ende dreißig, im Leben nie so wirklich angekommen und aus Trauer über den Verlust seiner vor 24 Jahren verschollenen besten und einzigen Freundin Nihil (bürgerlich Nathalie, und anhand des Spitznamens können sich die Lesenden schon ganz prima einen ersten Eindruck vom Wesen der Freundin verschaffen) nach Helmstedt verzogen (dunkler geht also immer), kommt Olve zurück in seine Heimatstadt, um sich auf die Suche nach Nihil zu begeben, die für ihn eine Spur gelegt hat, die ihn vermutlich wieder zu ihr führt.
Die auf dem Okerfloß gelesenen Auszüge machen mich so neugierig, dass ich mir nach der Rückkehr ins Harzgebirge umgehend sowohl Roman als auch Geschichtenband bestelle. Und jetzt, nach der Lektüre des Romans, kann ich auch mit Fug, Recht und im Brustton der Überzeugung behaupten, dass sich diese überaus lohnt: Zunächst finden sich die Lesenden in einem sehr anschaulich, liebevoll und detailgetreu beschriebenen Goslar wieder und folgen Olve durch die Innenstadt. Jeder kennt Goslar und fühlt sich bis hierhin noch sicher geborgen inmitten der beliebten großen Kleinstadt am Rande des Harzes, aber das ändert sich bald. Ich möchte hier niemanden die Spannung vorwegnehmen und verrate deswegen nur soviel, dass Olve und Nihil sich tatsächlich wiedertreffen und Nihil dann aufklärt, warum sie in den vergangenen 24 Jahren seit dem Ende der Schulzeit nie wieder aufgetaucht ist. Die Reise führt schließlich auf unheimlichen und mysteriösen Pfaden, die zu betreten ich niemandem ernsthaft ans Herz legen würde, von der Nähe der Goslarschen Innenstadt nach Hochmoor, das trotz seiner augenscheinlichen Existenz auf keinem Google-Maps-Luftbild zu sehen ist, noch dunkler ist als Goslar und Helmstedt zusammen und dessen Einwohnerschaft sich zum Einen in Zugereiste und Alteingesessene und zum Anderen in die Teams „König in Gelb“ und „Shubb-Niggurath, die Ziege mit den tausend Jungen“ aufteilen. Und hier wird dann auch deutlich, warum „Hochmoor“ zu einer Romanreihe mit dem Namen „H.P. Lovecrafts Schriften des Grauens“ gehört: Sowohl König als auch Ziege stammen aus dem Universum des legendären Titanen der Tentakelwesen, und auch solche gibt es auch hier im Verlauf der Geschichte an der Zahl zu bestaunen. Und nicht nur Lovecraft selbst, sondern auch der auf dessen Spuren wandelnde W.H. Pugmire, dem Julia A. Jorges den Roman gewidmet hat, stellt hier einen Einfluss dar. Aber lesen Sie selbst. Es lohnt sich und ich bin gespannt auf weitere Bände der geplanten Reihe, deren erster Teil „Hoochmoor“ ist.
Hochmoor gibt es als E-Book überall zu kaufen und als gedruckte Version exklusiv beim Blitz-Verlag (www.blitz-verlag.de) zu bestellen.