Von Matthias Bosenick (19.11.2021)
Vom Dunkel ins Licht: Eine überraschende Richtung schlägt die um ihren Suffix „Massage“ gekürzte Kopenhagener Sängerin Jomi, eigentlich Signe Høirup Wille-Jørgensen, auf ihrem neuen Soloalbum „Lyst“ ein. War der Vorgänger „Primitives“ 2013 noch eher abgrundtief und schwarz, strahlt „Lyst“ beinahe sonnenhell und hoffnungsvoll, lebendig und befreit. Musikalisch ist das gleichzeitig Indierock mit den Mitteln des Jazz und Jazz mit den Mitteln des Indierock; jenen pflegt Jomi seit den Neunzigern mit der Noiserockband Speaker Bite Me. Jomis Stimme steht hier wie ein kraftvoller Baum inmitten der überwältigenden Arrangements. „Verlangen“ lautet der Titel übersetzt, und Sexualität, Selbstbestimmung und Lust sind bei Jomi auch in ihren Performances immer wieder Thema. Eine großartige Platte!
Dieses Album hat beides, Rockstrukturen und Jazzarrangements. Diese Mischung geht auf, fließt ineinander, befruchtet sich, und das passt ja perfekt zu den Inhalten. Für „Lyst“ scharte die Sängerin, Pianistin, Gitarristin allerlei Musiker um sich, die Saxophon, Klarinetten, Trompeten, Synthies und natürlich Schlagzeug, Bass und Gitarren beisteuerten (Jomi selbst spielt hier fast keine, dafür hauptsächlich Klavier, aber auch Rhodes und Ukulele), nur nicht alles davon in jedem Song, die sind dafür zu unterschiedlich. Stücke wie das eröffnende „Byens som cirkler“ oder die neue, dritte Single „Knust kompas“ knüpfen nahezu direkt an die Indierock-Tradition an, in der Jomi ihre Wurzeln hat; im Noiserock, um genauer zu sein, oder exakt: Støjrock, wie er auf Dänisch heißt, Lärmrock. Wobei vom Lärm auf „Lyst“ keine Spur ist, aber von feinem Indierock sehr wohl.
Und eben vom Jazz. Die grandiose zweite Single „JaNejMåske“ quillt über davon, folgt den klassischen Popstrukturen nicht, ist frei und dabei freundlich. So turbulent, so fidel, so – lustvoll, ja. Jomi kommt zugute, dass ihre Mitmusiker ihre Lebensfreude an ihren Instrumenten zu transportieren wissen: Jeder trägt zur Stimmung des jeweiligen Songs bei, mit groovendem Bass, warmen Bläsern, anheimelndem Chorgesang, sowohl in den flotteren als auch in den sanfteren Liedern. „Lyst“ ist wunderschön, man möchte gar nicht, dass diese acht Stücke jemals vorbei sind, doch ist dies nach nur 36 Minuten der Fall. Egal, nochmal auflegen! Das Album gibt es physisch nämlich nur auf Vinyl und digital nur im Stream, nicht als Download.
„Livet er lige begyndt“ hieß die erste Single des Albums, „Das leben hat gerade begonnen“, und wenn man diese positive Botschaft mit dem brutal bösen Auftakt von „Primitives“ vergleicht, „A Fake Tart Is Life“, lässt sich schon leicht die Entwicklung nachzeichnen, die Jomi in den zurückliegenden acht Jahren vollzog. Ihre musikalische Neuausrichtung lässt sich interessanterweise vergleichen mit der ihrer Kollegin Henriette Sennenvaldt, die einst bei Under Byen sang und mit Jomi bereits zusammenarbeitete, natürlich. Sennenvaldt veröffentlichte vor einem Jahr ihr Solodebüt „Something Wonderful“, auf dem sie ebenfalls zu einer jazzigen Musik sang, nur mit einigen Unterschieden: Jomis Gesang ist auch in den stilleren Passagen kraftvoller als Sennenvaldts, und „Lyst“ ist komplett auf Dänisch, auf „Something Wonderful“ singt Sennenvaldt erstmals durchgehend auf Englisch.
„Lyst“ besteht ausschließlich aus Hits, jeder Song ein Treffer. Ein herrliches Stück Musik. Und dann ist das Vinyl auch noch grau marmoriert! Lustige kleine Anekdote dazu: Wer das Vinyl vorbestellen wollte, sollte eine Nachricht an eine Emailadresse schreiben, ohne Zahlung oder sonst etwas, nur mit dem Hinweis auf Interesse. Alsbald erhielt man eine Antwort: Das Album kommt jetzt heraus, du kannst es morgen Nachmittag an dieser Kopenhagener Adresse abholen. Nur wenige Tage davor verbrachte der Rezensent seinen Sommerurlaub nur knapp 100 Meter von dieser Adresse entfernt. Das hätte Porto gespart!