Von Matthias Bosenick (17.11.2013)
Dieser Artikel ist auch veröffentlicht auf Kult-Tour Braunschweig.
Als wenn Roland Emmerich einen Film für RTL2 dreht, mit einigen bei Wikipedia ermittelten lokalen Sehenswürdigkeiten am Flussbettrand – und das als Live-Hörbuch: So gestaltete sich Cruegers 13. Okergeschichte, als multimediale szenische Lesung dargeboten im Das Kult, entweder Braunschweigs kleinstem Theater oder größtem öffentlichen Wohnzimmer. Natürlich muss Autor Crueger seine lokalen Kenntnisse nicht bei Wikipedia nachschlagen, er kennt seine Oker und deren Anrainer wie seinen Gantenkiel. Seiner Geschichte obliegt eine mitreißende Lust am bedingungslosen Zerstören. Der Performance mit Co-Leser Roland Kremer sowie Musiker und Geräuschemacher Schepper am E-Bass fehlt lediglich die mediale Nachbereitung: Das war ganz großes Kopfkino und hätte sich als CD gut gemacht. Gastgeber Thomas Hirche übrigens führte als Vorgruppe ein Puppenspiel nach einer weiteren Crueger-Geschichte auf.
Dem Rezensenten war dieser Besuch im Das Kult eine Premiere. Auch kannte er den Gastgeber bis dahin noch nicht auf der Bühne. Dem charmanten Betreiber gelang es schon mit der Begrüßung an der Kasse, das im Braunschweiger Kulturgeschehen beinahe übliche Gefühl von Familie und Zuhause zu erwecken, und diesen Eindruck auch als Moderator und Künstler zu bestätigen. Hirche eröffnete mit dem Psychothriller, wie Autor Crueger die Geschichte selbst kategorisierte, titels „Ab 18“. Hirche erläuterte, dass er als ansonsten Einmanntheater („Ich spiele immer vor ausverkauftem Haus“) damit den Versuch wagen wolle, sein Konzept auf bis zu sechs Zuschauer auszuweiten, die den Ton per Kopfhörer übertragen bekommen, und die Premiere als weitere Variante einfach mal einem großen Publikum im offenen Raume zu kredenzen. Die 40 Gäste im ausverkauften Das Kult erlebten also den von Autor Crueger eingesprochenen inneren Monolog eines Totmachers, nicht Mörders, der genau darüber sinniert, ein natürlich unschuldiges Opfer in der Oker versenkt und dann wieder zum Tagesgeschäft übergeht, und genau da hat der Autor die bissige Pointe gesetzt. Hirche spielt auf einem aufgeklappten Koffer mit idyllischer Herbstkulisse, die den Bürgerpark darstellt, und fängt nebenbei auch noch souverän einen technischen Fehler auf. Das neunminütige Stück erscheint deutlich kürzer, weil es so kurzweilig ist und das richtige Tempo einhält.
Für den fast zweistündigen Katastrophenthriller (treffende Bezeichnung des Autors) „Der Untergang“ setzten sich Crueger und Kremer auf eine Bühnenseite, Schepper nahm die andere ein, und mittig über sich projizierten sie Ansichten vom Okerstausee und anderen Motiven aus der performten Geschichte. Der Titel ist mehrdeutig und gut gewählt, erinnert er doch nicht umsonst an einen Hitler-Kinofilm, an Schiffsunglücke und an Armageddon gleichzeitig. Harmlos geht es los: Eine Witwe geht mit zwei Profis auf Tauchausflug im Okerstausee, ihr Sohn macht derweil über ihr mit seiner Schulklasse bei einem Lottogewinner als Kapitän eine Seerundfahrt. Crueger leuchtet die persönlichen Hintergründe und Befindlichkeiten aus, baut Sympathien auf, verknüpft Schicksale, kreiert Emotionen. Im Wechsel trugen Kremer und er die Handlungsstränge vor, Schepper intervenierte wie auf einer Hörbuch-CD mit seinen eigenen Tracks, lediglich dreckiger gespielt. Selbst Tauchgeräusche erzeugte der bundesweit renommierte Bassmann auf seinem variablen Apparat.
Als das Tauchtrio auf halber Strecke in einem Alten Mann, also stillgelegten Bergbauschacht, ankommt, gehen mit Crueger die Gäule durch: Um einen Nazischatz geht es, und zwar um nichts weniger als das Bernsteinzimmer, nebenbei auch etwas Gold. Es fließt das erste Blut, noch bevor der übersehene Nazisupersprengstoff AHSS die Katastrophe auslöst. Die Zahl der Toten steigt exorbitant schnell, bis die Okerflutwelle sich endlich bei Müden ausläuft. Crueger berichtet packend und emotional zynisch distanziert. Beispiel: „’Da drüben ist meine Mami getaucht‘, dachte der Vollwaise.“ Man spürte den Beschreibungen die diebische Freude an, die der Autor beim Erdenken hatte. Schepper garnierte die Katastrophe mit auf dem Bass erzeugten Explosionseffekten. Nicht zu unrecht sprach später jemand von Neil Youngs „Dead Man“-Soundtrack als Referenz.
Definitiv, was die drei da erzeugten, war Kopfkino erster Kajüte. Es nicht mitgeschnitten zu haben, war ein sträfliches Versäumnis. Den Text gibt es in einer längeren Version lediglich als eBook, aber immerhin, doch ohne die Lesestimmen, Basssounds und Dias ist das sicherlich nur der halbe Spaß. Das war eine Vollprofishow. Kein Wunder, dass am Ende noch diverse Gäste beim gemütlichen Getränk im Saal weiterdiskutierten.
Lieber Van,
genau das wollte ich erzeugen – Kopfkino! Dank für deine Kritik, die in allen Punkten stimmig und treffend ist, wie z.B. die „diebische Freude“ beim Verfassen bestimmter Szenen. Schön, wenn die Emotionen, die ich mit der Dramatik wecken wollte auch wirklich geweckt wurden. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja mal, wenn schon keinen Kinofilm, eine Hörbuchvariante der Geschichte.
Lesen kann man die ganze Story ja als eBook, das unter dem Titel „Der Untergang – Die 13te Okergeschichte“ für 99 Cent in vielen relevanten Shops erhältlich ist. Und einige der Fotos, die während der Lesung gezeigt wurden, sind da auch drin zu sehen. Viel Spaß beim Schmöckern!