Von Matthias Bosenick (10.05.2023)
Was für ein Werk! Mit pandemiebedingtem Verzug wirft Oswald Henke unter seinem Haupt-Alias Goethes Erben deren zehntes Studioalbum „X“ in die Fangemeinde, die sich selbstredend für die gigantische Box-Version mit dickem, großem Buch und Doppel-DVD entscheidet, nicht für die einfache CD, die natürlich auch schon geil genug ist. Wie die Besetzung der Band, änderte sich auch die musikalische Untermalung von Henkes theatralisch-lyrisch dargebotener Weltanschauung über die Zeit: Dieses Album startet mit Ambient-Drones, aus denen der Künstler dunkle, schöne, zerbrechliche, opulente, wütende Lieder herausschält. Lässt man sich erst auf die klassisch depressiven Themen ein, bricht Henke einem auf halber Strecke das Genick mit der zu Industrial-Sounds geäußerten Feststellung, „der linke Arm muss weg“ – willkommen bei Goethes Erben. Auf den DVDs gibt es Konzerte und Interviews.
Bis zum siebten Song „Bluten“ bleiben Goethes Erben im schleppenden Drone, im gebremsten, bisweilen opulent ausgestalteten Industrial, dann plötzlich steigt die Taktzahl, der Track wird tanzbar, clubtauglich, aber um Gottes Willen nicht fürs Radio geeignet, mit einem Text wie diesem: „Bluten, schneiden, ächten“ – auch ohne dabei explizit zu sein, würde es den Nebenbeihörer sicherlich verstören. Dabei ist dies ein Lied gegen den Kapitalismus, also eigentlich gerade an die breite Masse als Weckruf sowie an die Reichen als unfreundlicher Hinweis gerichtet. Henke zeigte schon immer Haltung, egal, in welchem Projekt, auch mit Erblast, das er jüngst digital reaktivierte, selbst wenn einem die Schock-Stücke vermutlich eher im Gedächtnis bleiben, in denen wirklich Blut fließt, wie „Xenomelie“, in dem er das titelgebende Krankheitsbild aus der Ich-Perspektive schildert und eben bemerkt, sein linker Arm müsse vom Körper abgetrennt werden.
Drittes großes typisches Goethes-Erben-Themenfeld ist Depression, Isolation: „Ich bin allein“ auf Position neun ist der zweite und letzte Uptempo-Song, dieser sogar in einer Art Waverock mit Country-Rhythmus dargeboten, und Henke betrachtet darin – wie überdies alle Stücke und schon immer im rezitativen Sprechgesang vorgetragen, mit dem er meisterlich Ohrwürmer generiert – einmal mehr eine Gesellschaft, die nicht dazu in der Lage oder gar überhaupt Willens ist, Individuen aufzufangen, sie zu integrieren. Den Abschluss des Albums macht eine Klavierballade, also ein Stück Musik, das stilistisch an die Anfänge der Erben zurückreicht – und an die jüngere Zeit, in der pandemiebedingt größere Bühnenperformances nicht möglich waren und Henke auf den Klassik-Griff zurückgriff.
Das dokumentieren auch die beigefügten DVDs, auf denen zwei Konzerte sowie Interviews und Dokus zu sehen sind. In den Konzerten boten Goethes Erben bereits vorab Stücke des „X“-Albums dar, 2021 in Dresden und 2022 in Bayreuth, da sieht man schon, wie lang das Album nach der „Flüchtige Küsse“-LP 2020 und der „Elemente“-Box 2021 auf Eis lag. In den Interviews macht sich Henke, ebenso im Internet sowie mit der Veröffentlichung „Das gestohlene Konzert“ 2022, Luft über die Art und Weise, wie die Kultur in der Pandemie von Seiten der Entscheider benachteiligt wurde; das nimmt er dergestalt persönlich, dass seine Inbrunst beinahe unschön querdenkerische Ausmaße annimmt, wenngleich man sich absolut sicher sein kann, dass Henke alles andere als das ist und seine Argumentationsgrundlage nicht von rechtsorientierten Verschwörungstheorien ausgeht, sondern von Fakten. Das strengt auf Dauer an, aber man ist ja nicht gezwungen, es sich anzusehen, schließlich gibt es weitaus mehr Musik als Gespräch in dieser Box, und die ist ohne Fehl.
Eine Veröffentlichung mit dem Titel „X“ gibt es von Goethes Erben bereits, das mag verwirren: Zum Zehnjährigen leistete sich Henke 1999 eine Drei-CD-Box unter diesem Namen. An diesem – mit streitbarer Zählung – nunmehr zehnten Album mit dem Titel „X“ beteiligt waren die formidablen Musiker Tobias Schäfer (E-Gitarre, Keyboard, Piano), Tom Rödel (Bass, E-Gitarre) und Markus Köstner (Schlagzeug und Percussion) – doch nach der Veröffentlichung zerbröselt diese Besetzung schon wieder, aktuelle Live-Auftritte bestreitet Henke mit anderen Wegbegleitern. An mancher Stelle in diesem Internet ist bei „X“ von einem Finale die Rede, aber das Kind soll mal schön im Bade bleiben, Henke löste die Erben schon mal auf und kehrte nur umso klanggewaltiger zurück.
Ach so, ja: Dieser Beitrag kommt ohne Schlagworte wie Gothic, Gruftmucke oder Neue Deutsche Todeskunst aus.