Von Matthias Bosenick (14.11.2017)
Schön, dass Erwachsene zum Meinungswechsel in der Lage sind: Unter anderem als Reaktion auf illegale Downloads und entgangene Umsätze legte Oswald Henke vor zwölf Jahren seine Goethes Erben auf Eis und wies sämtliche künftige Tonträgerveröffentlichungen als utopisch von sich, inzwischen lässt er beides wieder zu. Die jüngste Veröffentlichung seiner neu besetzt reanimierten Neue-Deutsche-Todeskunst-Band ist eine 12“ mit zwei Stücken, ein sehr kraftvolles zur politischen Lage und eines ohne das Trademark, für das man die Band vor über 25 Jahren ins Herz schloss. Bonus: Die anschaulichen optischen Gimmicks kann man nicht downloaden.
Sehr klar elektronisch instrumentiert und im Midtempo gehalten, strahlt „Lazarus“ eine unterschwellige Aggression aus. Die passt zur Stimmung des Vortragenden: Henke ist stinksauer auf Europa und die abweisende Haltung gegenüber Flüchtlingen, gegenüber Hilfesuchenden, gegenüber Bedürftigen. Text und Musik steigern einander zum Rausch, Henkes Stimme wird eindringlicher, die Musik lässt Störgeräusche herumfliegen. Nichts für den Club, so ohne weiteres zumindest, wenngleich ansatzweise vergleichbare Electrostampfer wie „Shithammer“ von Numb oder „Closer“ von Nine Inch Nails sogar noch langsamer sind, aber auch deutlich kraftvoller. Der handelsübliche Grufti tanzt nicht zu Mitdenksongs, und leider sind Gruftis immer noch die einzige Zielgruppe für Goethes Erben.
Bei der B-Seite „Denn es ist immer so“ handelt es sich um ein atmosphärisches Instrumental, eine Klavierballade. Also ein Stück ohne Oswald Henkes Stimme, besser: seine Vortragsweise. Mit der machte Henke auf sich aufmerksam, damals, ab 1990, weniger mit der Musik, die war nämlich tendenziell künstlich, minimalistisch, unperfekt. Erst im Laufe der Jahre entwickelte Henke die Erben zu einer Band aus versierten Musikern, die auch kompositorisch etwas zu sagen hatte. Mit dem Interimsprojekt Henke machte er zuletzt sogar alternative Rockmusik. Stets im Zentrum blieb Henkes Sprechgesang, einmalig in der Musik, theatralisch überhöht, deutlich akzentuiert, sehr auf Inhalte bedacht. Die kann man doch nicht weglassen, auf der Hälfte aller neuen Goethes-Erben-Stücke, der B-Seite dieser 12“ nämlich. Tobias Schäfer bedient hier das Klavier, und damit ist Henke sogar komplett raus aus dem Stück. Das ist Protest! Schäfer begleitet Henke bereits seit fünf Jahren, er war auch auf den Henke-Alben zu hören.
So drückt ein Künstler seine Vielseitigkeit in nur zwei Liedern aus. Respekt! Und das auch noch auf einem Tonträger, der sich nicht nur hören, sondern auch sehen lassen kann: Das Vinyl ist in rotem Splatter auf transparentem Grund gehalten, die beigelegte CD greift die Optik auf, indem nur der CD-Rom-Teil silbern ist und der Rand ebenfalls transparent mit roten Splatterflecken.
Mit „Lazarus“ kündigt Henke das neue Erben-Musiktheaterstück „Meinungsstörung“ an. Offen ist, ob es das wie das vorherige „Menschenstille“ vor zwei Jahren auch auf DVD oder CD geben wird. Henke ist halt ein Rebell, eigensinnig – das ist auch gut so, so kontroverse Künstler bereichern nicht nur die Sammlung.