Everything Everywhere All At Once – Daniel Scheinert & Daniel Kwan – USA 2022

Von Matthias Bosenick (18.05.2022)

Zweieinhalb Stunden opulentes und technisch überbordendes Kreativitätsgeballer! Dabei lässt sich die Handlung in einem Satz zusammenfassen: Mutter versöhnt sich mit Tochter. Dafür muss sie nur in unendlichen Parallelwelten gegen eine böse Widersacherin und eine kaum weniger böse Steuerbeamtin kämpfen, den wahlweise weisen und uneingeweihten Ratschlägen ihres die Scheidung ins Auge fassenden Gatten folgen, die heile Welt ihres in die Jahre gekommenen Vaters bewahren und alles in Allem einfach nur endlich als Mensch reifen. In Sekundenbruchteilen flackernde Alternativuniversen, Martial-Arts-Kämpfe, Drama, Humor, Warmherzigkeit, innere und äußere Querverweise, grandiose Schauspielende und eine soghaft erzählte komplexe Geschichte lassen diese zweieinhalb Stunden im Rausch vergehen.

Das Gute ist: Der Film ist zwar außerordentlich komplex, aber wenn man das Ende kennt, weiß man, dass man die zwei Stunden dazwischen gar nicht zwingend bis ins Detail verstehen muss, sondern ihnen lediglich halbwegs stolperfrei folgen und an den wahnwitzigen Ideen seine Freude haben. Das in den USA einen Waschsalon betreibende chinesische Ehepaar Evelyn und Waymond sieht sich bei einer Steuerprüfung mit einem Abrechnungsfehler konfrontiert. Während die Prüferin Deirdre Evelyn auseinandernimmt, übernimmt plötzlich parallel ein alternativer Waymond die Kontrolle und bereitet Evelyn auf ihre Mission vor – die Universen vor der bösen Jobu Tupaki zu retten.

Evelyn muss diese Jobu Tupaki einmal böse vor den Kopf gestoßen haben, denn sie hat sich zum Ziel gesetzt, alle Evelyns auszulöschen. Um dies zu verhindern, mobilisiert ein Team um einen Alternativ-Waymond alle verfügbaren Alternativ-Evelyns, um die eine zu finden, die Jobu Tupaki in ihre Schranken weisen kann. Nach diversen Prügeleien und Weltwechseln erkennt Evelyn, dass es sich bei der Endgegnerin um ihre Tochter Joy handelt, die sich von Evelyn am Anfang des Films zurückgesetzt fühlte, weil sie Joys Partnerin nicht akzeptierte und sogar vor ihrem Vater Gong Gong leugnete. Eine Rettung aller Welten ist möglich, und im Sinne des Films sogar schlüssig, und wenn dies geschieht, ist klar, dass man in diesem cineastischen Chaos im Grunde nur Evelyns kraftaufwändigen Reifeprozess verfolgte. Und der hat es sowas von in sich, wie im echten Leben. Unterteilt ist der Film in drei Abschnitte: In „Everything“ muss Evelyn erkennen, worum es geht, das Problem in „Everywhere“ lösen und in „All At Once“ unter neuen Vorzeichen weitermachen.

Die Daniels legen unendliche Spuren aus, auf die sie fortwährend zurückgreifen; man hat so viele Aha-Momente, dass man bezweifelt, wirklich jeden internen und externen Code geknackt haben zu können. Nebensächlichkeiten erfahren später enorme Relevanz; wenn Waschsalonkundinnen plötzlich zu mit Hunden bewaffneten Kämpferinnen werden, wenn Bagels zentrale Bedeutungen erfahren, wenn aufklebbare Augen überall in Erscheinung treten, sogar in einem Paralleluniversum, in dem Evelyn und Joy mental kommunizierende Felsen sind, wenn Hotdoghände bei der Liebesbeziehung von Evelyn und Deirdre zum Einsatz kommen, wenn man sich eben gar nicht alles merken kann, was man da zu sehen bekommt. Evelyn erfährt nämlich, dass sie überall auf ihre in Paralleluniversen erlernten Fähigkeiten zurückgreifen kann – und dass diese Universen im Grunde auf Entscheidungen zurückzuführen sind, die sie selbst vornahm. So kommen diese Fähigkeiten nach und nach zum Einsatz, Kampfkunst, Gesang, Kochen, Schauspielerei – und Liebe für Leute, die sie als Gegner auffasst.

Die internen Links sind ja schon immens genug, da bringen die Daniels auch noch unzählbare externe Links unter. Klar, Jackie Chan und Martial-Arts-Kino überhaupt erkennt man, ebenso Flugtricks wie aus „Matrix“ und „Tiger And Dragon“. „2001: Odyssee im Weltall“ gibt’s mit Wurstfingern nacherzählt, Evelyn nennt ihre Widersacherin einmal „Jobu Chewbacca“, der nach Art von „Ratatouille“ unter einer Kochmütze versteckte Waschbär referiert eindeutig an Rocket Raccoon von den „Avengers“. Die Daniels kennen die Popkultur und bringen sie humorvoll unter.

Und dann der Stil: Nun sollte man nicht erwarten, dass der komplette Film eine Strobowelle ist; die Daniels lassen sich und ihren Figuren Zeit, sobald sie vonnöten ist, insbesondere zum Finale hin. Doch diese Stroboszenen knallen in Netzhaut und Hirnrinde, weil sie so hirnrissig überdreht sind. Da sieht man Evelyns Gesicht, während sie in Sekundenbruchteilen durch die Universen flackert, und jeder Bruchteil ist mit einer anderen Atmosphäre, Identität, Welt hinterlegt. Auch wenn so eine Sequenz nur wenige Sekunden dauert: Was für ein Aufwand! Diese Spezialeffekte, inklusive animierter Passagen. Und dann noch diese Kampfchoreografien, herrlich, mit einer Gürteltasche und einem Hund!

Nicht zuletzt die Schauspielerriege überzeugt dann, weil da auch Leute mitmachen, mit denen man gar nicht rechnet. Michelle Yeoh als Evelyn ist perfekt besetzt, ihr nimmt man die unwirsche Managerin-Mutter ab, die von ihrem eigenen Leben zerbrochen und neu zusammengesetzt wird. Jamie Lee Curtis als Deirdre ist kaum wiederzuerkennen, die rasende Großraumbüro-Furie steht ihr ausgezeichnet. Der paddelig-sympathische Wayne wird gespielt von Jonathan Ke Quan – und der war 1985 der Data in „The Goonies“ und spielte 1984 in „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ mit. James Hong alias Gong Gong war schon in „Chinatown“ und „Big Trouble In Little China“ zu sehen.

Und am Ende siegt die Liebe. Mag man für profan halten, weil sie als Thema so ausgelutscht und plakativ ist, aber genau das ist sie in diesem Film mitnichten. Die Daniels arbeiten sich an ihr subtil ab, und es ist mehr als nur erforderlich, dieses Krawallfeuerwerk anzuzünden, um Evelyn zu ihren lebenswichtigen Erkenntnissen zu führen. So geht man komplett beschallert und emotional berührt aus dem Kino.