Europa – Lars von Trier – DK/SF/D/CH 1991

Von Matthias Bosenick (17.11.2024)

Filmfest in Braunschweig! Und weil Udo Kier den europäischen Schauspielpreis „Europa“ verliehen bekommt, zeigt das Filmfest einige Filme, in denen der Achtzigjährige mitspielte, darunter den nach dem Preis benannten (oder umgekehrt) „Europa“ von Lars von Trier aus dem Jahr 1991, dritter und letzter Teil der „Europa“-Trilogie. Als wäre das nicht sensationell genug, steht der Kölner auch noch nach dem Film dem Publikum Rede und Antwort, beziehungsweise: mehr Rede als tatsächlich Antwort, was seinen Charme nur untermauert.

Kiers kodderige Art, Geschichten zu erzählen, steht in einem erheblichen Kontrast zu der Schwere des vorangegangenen Films. „Ich zähle bis zehn, dann bist du in Europa“, hypnotisiert Max von Sydow das Publikum zu schwarzweißen Eisenbahnschienen – und schon ist man mittendrin in einem Kontinent, der bis wenige Momente zuvor noch von einem menschenverachtenden Krieg erschüttert wurde. Man begleitet den US-Amerikaner Leopold, der von seinem Onkel als Schlafwagenschaffner im ruinösen Deutschland angelernt wird. Die Handlung entwickelt sich recht einfach: Leo verliebt sich in Kate, die Tochter des Leiters des Schlafwagenunternehmens, das heißt wie die Filmfirma von Triers, nämlich Zentropa. Kate war einst Werwölfin, also faschistische Terroristin, beteuert aber, sich abgewandt zu haben. Leo vertraut ihr und heiratet sie. Nachdem sich der Unternehmer entleibte, weil er mit der Situation nicht zurechtkam, einen Juden dazu erpresst zu haben, ihm zu bescheinigen, dass er zur Nazizeit eine weiße Weste hatte, entführen Werwölfe Kate, um Leo zu einem Attentat an einem Zug zu erpressen. Zu spät erkennt er, dass Kate ihn belog.

Bis dahin ist Leo ein weicher Mensch, der sich von den Menschen in seinem Leben leiten ließ, ohne eigenen Willen und ohne etwas zu hinterfragen. Sobald er erstmals eine eigene Entscheidung fällt, fällt diese katastrophal aus, insbesondere für ihn selbst. „Ich zähle bis zehn, dann bist du tot“, sagt von Sydow nahezu teilnahmslos. Bis dahin hat man uniformierte Prüfer vom alten Schlag gesehen, einen trunkenen Vorgesetzten, einen loyalen, rechtschaffenen Bruder (Udo Kier) von Kate, deportierte Juden in einem Leo bisher verborgenen Waggon, erhängte Werwölfe, von Kindern exekutierte Bürgermeister, von Kindern per Seil gezogene Waggons und vieles Verstörendes mehr.

Das Schwarzweiß bricht von Trier immer dann auf, wenn Figuren einen Wandel vollziehen, einen besonderen Moment haben, etwas Emotionales erfahren; dann sind es lediglich die Figuren, die Farbe bekommen, nicht der gesamte Film. Umherspritzendes Blut taugt ebenso dafür, farbig zu sein. So schwer die recht einfache Handlung auch ist, noch mehr Schwere erfährt der Film über die Gestaltung: lange Kamerafahrten, ungewöhnliche Perspektiven, viele Montagen, tiefe Schwärze, unheilvolle Andeutungen (die durch den Liebesakt von Kate und Leo zerstörte Spielzeugeisenbahn) mit dramatischer Musik.

Es schüttelt einen, der Geschichte zu folgen, obwohl von Trier auch eine Menge Humor einbaut. Seine Schauspieler sind großartig gewählt, zudem die Tatsache, dass man den Film nur im Original mit Untertiteln vorgesetzt bekommt, denn andernfalls wäre es nicht nachvollziehbar, dass die Personen zumeist Deutsch sprechen, wenn nicht Englisch, und dass die Figuren von Schauspielern dargestellt werden, die Deutsch als Fremdsprache haben; es ist ein Vergnügen, den skandinavischen Akzent herauszuhören. Entsprechend fremd oder gestelzt wirken manche Dialoge, aber gerade das erzeugt zusätzlich eine besondere Atmosphäre.

Das nächste Projekt, das von Trier damals in Angriff nahm, ist dann auch das, was Kier am besten gefällt: Die TV-Serie „Riget“, auch „Kingdom“ oder „Geister“ oder „Hospital der Geister“, deren dritte Staffel von Trier jüngst vollendete – abermals mit Kier – und die vermutlich des Regisseurs letzte Arbeit darstellen wird. Auf dessen Gesundheit ging Kier im Gespräch auf der Bühne nicht ein, erwähnte lediglich, von Trier mache zurzeit eine Pause. Kier benennt von Trier als Freund und erzählt mehrmals, dass er Taufpate von dessen ältester Tochter sei. Überhaupt sei es ein Gewinn für Kier, mit Menschen wie von Trier oder Christoph Schlingensief und Rainer Werner Fassbinder gearbeitet haben zu dürfen; der Schauspieler gibt überdies viele erhellende Details aus seiner Arbeit und seinem Leben preis.

Da sitzt ein Achtzigjähriger mit kölschem Zungenschlag zwischen zwei Filmfest-Mitarbeitenden auf der Bühne und gestaltet die Fragerunde gutgelaunt nach eigener Fasson. Mal schnauzt er Gäste an („Becher umschmeißen, du brauchst wohl Aufmerksamkeit?“), mal die selbst wunderbar schlagfertige Interviewerin („Auf die Uhr gucken ist schon mal ganz falsch“), mal kanzelt er Fragen ab („Was machen Sie, wenn Tarantino fragt?“ – „Mit Tarantino habe ich schon gearbeitet.“ … Pause, das Tema ist für den breit grinsenden Kier scheinbar durch, bis er gleich doch noch zur nächsten Anekdote über Tarantino anhebt) und selten beantwortet er Fragen nach deren Kern, aber stets unterhaltsam. Er greift Filmideen auf (angesichts der vielen Kirchen in Braunschweig die von einem Vampir-Pastor, der in dieser Stadt umgeht – Marc Fehse, bitte übernehmen!) oder Ideen für Produkte (Vampir-Blut als Ketchup-Marke). Beste Reaktion auf die Frage, was er dachte, als ausgerechnet Braunschweig ihm einen Preis verlieh, 30 Jahre nach seiner Professur an der Hochschule für Bildende Künste: „NA, ENDLICH!!!“ Recht so!