Von Matthias Bosenick (07.06.2017)
Da knüpft das Synthiepopduo doch tatsächlich endlich an sein eigentliches Meisterwerk an, 22 Jahre später, am selbstbetitelten Album, das den Blick vom Club löste, von den Charts gar, und beinahe experimentell für Erasure neue Songstrukturen auslotete, inklusive zweier Gastbeiträge von Diamanda Galás. Ganz so ausufernd ist „World Be Gone“ zwar nicht geworden, aber so reflektiert, nach innen gewandt, mutig. Es ist tatsächlich das beste Erasure-Album seit 1995.
Die Sounds, die Vince Clarke synthetisch erzeugt, verweigern den schieren Effekt, sie tragen den Song. Und Andy Bell singt wie ein Chorknabe, er stimmt so manchen Gospel an. Die beiden öffnen Räume inmitten ihrer Lieder, sie laden zum Abtauchen ein, zur Meditation, und sie vermeiden den Kitsch dabei und die zwischendurch bisweilen recht cheesig ausgefallenen Töne. Lediglich „Oh What A World“ hat mit den schleppenden industriellen Beats eine moderne, nachdrückliche Grundstruktur, der Rauswerfer „Just A Little Love“ versucht sich unpeinlich am Achtziger-Uptempo, der Rest ist im Sinne des Synthiepops wunderbar zeitlos.
Nicht nur den Kitsch vermeiden sie, zuletzt versuchten Erasure zu häufig, wechselnd bis gleichzeitig an alte Strukturen oder an gegenwärtige Clubsounds anzuknüpfen, und beides stand ihnen nicht so richtig gut. Natürlich hatte jedes Album gute Songs, aber ein komplett gutes gab es nicht mehr. Sieht man von den Remix-Compilations sowie den überraschend großartigen Akustik-Country-Versionen ihrer eigenen Songs auf „Union Street“ ab. Und gute Songs, die hatten Erasure in den Achtzigern zuhauf, beinahe jede Single war ein Hit und das auch zu Recht. In der charakterlosen Eurodance-Hochphase Anfang der Neunziger punkteten sie mit dem zurückgenommenen Hit „Always“, dann kam schon das begnadete „Erasure“. Wem auch immer sie hernach Erwartungen erfüllen wollten: Davon befreiten sie sich jetzt endlich.
„World Be Gone“ ist, wie der Vorgänger „The Violet Flame“, das Ergebnis einer Pledge-Kampagne. Jeder Pledger steht im Booklet (der Rezensent auch), und doch gibt es, wie bei der Aktion davor, eine Remix-Bonus-CD-Variante, die man nicht via Pledge ordern konnte. Das ist unfair, schmälert aber nicht den Genuss am Hauptwerk. Das wird sicherlich kein Chartserfolg werden, so wenig, wie es die zehn Alben davor waren, aber wer Ohren hat zu hören, der höre und freue sich.