Erasure – Day-Glo (Based On A True Story) – Mute 2022

Von Matthias Bosenick (08.09.2022)

Erasure haben ‘nen Lauf, hm? Die Qualität ihres Post-Achtziger-Synthiepops steigert sich seit ungefähr „The Violet Flame“ 2014, spätestens seit „World Be Gone“ 2017. „Day-Glo (Based On A True Story)“ dauert länger zu lesen als zu hören und besteht aus Skizzenresten, die Andy Bell und Vince Clarke zum 2020er-Vorgängeralbum „The Neon“ anfertigten. Das Album ist ungefähr so experimentell wie das selbstbetitelte Meisterwerk aus dem Jahr 1995 und birgt trotz aller Miniaturen und Petitessen sogar einige Popsongs, manche davon sogar mit Discofoxtauglichkeit. Lediglich nach den Achtzigern klingt bei dem Duo längst nix mehr, ansonsten ist dieses halbstündige Album ein mutiges und gelungenes Statement von zwei Leuten, die sich und anderen nix mehr zu beweisen haben.

„Day-Glo“ (den Rest in Klammern schenken wir uns fürderhin, das ist nebenbei der Titel des zweiten Liedes auf dem Album) ist ganze 32 Minuten lang mit zehn unter dreieinhalb Minuten langen Stücken. Klingt voll nach Radioformat, nech, doch dürften Radiostationen dieser Zeit nur wenig an dieser Musik interessiert sein. Clarke und Bell verzichten darauf, zeitgenössischen Strömungen zu folgen, sie sind vielmehr bei sich selbst verankert, allerdings bei einem Selbst, das erst nach 1991 ansetzt, so spätestens ab der Hitsingle „Always“, und unter Auslassung der eher cheesigen Sachen der späteren Neunziger und Nuller. Ja, das Cheesige fehlt hier, das sie ansonsten schon mal recht gern in ihre Musik einbauten, leider. Nicht jedes Album von Erasure aus der genannten Zeit ist daher bedenkenlos empfehlenswert.

Dieses sehr wohl. Clarke tüftelt an seinen Synthesizern herum, entlockt ihnen Sounds, die man zum Teil schon von ihm kennt und die er neu zusammensetzt, zu komplexen Ambient-Tracks wie seinerzeit auf „Erasure“ oder mit The Clarke & Ware Experiment. Mit diesen Nummern erzeugt Clarke schöne Hinhörmomente, die sehr effektvoll nicht auf Effekte abzielen. Dazwischen streut er vereinzelte Popsongs, die im oberen Midtempo bis unteren Uptempo zum Wippen und Schwofen einladen.

Und er hat ja noch den Sänger dabei. Bells Stimme ist hier nicht immer als Liedgesang eingesetzt, meistens lediglich als weiterer Sample, der die Tracks anreichert, collagenartig oft, etwa in „Bop Beat“, das fröhlich mit Neunziger-Sounds den Discofox feiert und in dem Bell lediglich den Titel melodiös wiederholt, oder im nicht nur leicht clubbigen und mit industrialartigen Sounds versehenen „Inside Out“, in dem gesamplete Bell-Phrasen den Floorfiller garnieren, oder in „Pin-Prick“, in dem Bell lediglich atmosphärisch seine Stimme erschallen lässt. Auch das kennt und liebt man bereits von „Erasure“. Die Ambient-Ballade „The Conman“ hat eine Art Text, dürfte also als erstes richtiges Lied des Albums gelten, das nächste ist dann erst „Harbour Of My Heart“, ebenfalls ein chilliges, ansatzweise sogar düster-bedrohliches Lied. So richtig Text mit Strophen und Refrain hat eigentlich erst „3 Strikes And You’re Out“, kaum flotter temperiert als die Balladen zuvor, aber dennoch am ehesten ein klassischer Popsong von Erasure, der 1991 auf „Chorus“ oder 1994 auf „I Say I Say I Say“ nicht als Anachronismus aufgefallen wäre.

Damit unterscheidet sich „Day-Glo“ sogar erheblich von der „Ne:EP“, die vor einem Jahr herauskam und auf der sich vier waschechte Neo-Synthiepopsongs finden, die ebenfalls als Folge von „The Neon“ entstanden. Das Duo empfindet nämlich „Day-Glo“ als Abschluss einer Art Wievielauchimmerologie, angefangen mit „The Neon“ über das nicht so gute „The Neon Remixed“, dann „The Neon Live“ und die ausgezeichnete „Ne:EP“ bis hin zu eben dem neuen Album. Das definitiv einen krönenden Abschluss bildet.

Was Erasure leider definitiv nicht mehr hinbekommen: die Synthies so zu programmieren, dass so effektvolle, atmosphärische, im Sound abwechslungsreiche und besondere Songs entstehen wie in den Achtzigern. Das schafft leider keiner der früheren Synthiepophelden mehr, und die, die es versuchen, scheitern. Die Neunziger sind für sie im Sound offenkundig einfacher zu rekonstruieren, dabei scheint es, dass es vielmehr am kompositorischen Geschick mangelt. Die Anlagen müssen doch da sein, schließlich gibt es die alten Songs ja bereits. Ein Rätsel!