Von Matthias Bosenick (22.06.2023)
Nervöse Musik von entspannten Leuten: Ihr gemeinsames Album mit der Charles-Baudelaire-Zeile „Au fond de la coulisse“ als Titel (aus „Les Fleurs du mal“) verschenken die Impro-Initiatoren Ed Wilcox aus Philadelhia und Michel Kristof aus Paris, die ihrem Projekt lediglich das „Duo“ als Namenszusatz anhängen. Ausschließlich mit Schlagzeug sowie E-Gitarre, Piano oder Cembalo ausgestattet, setzten sich die beiden ins Studio und frickelten fröhlich vor sich hin. Dabei entstand eine Art Jazz, wenn man so will, dem auf weiten Strecken weder Takt noch Melodie zugewiesen sind, sondern eine Stunde lang mal versunken, mal nach außen gewandt frei bearbeitetes Instrumentarium – und das komplett unbearbeitet, einfach mitgeschnitten. Damit schlagen die beiden eine Brücke zwischen Arthur Doyle und Sonny Simmons, für die jeder jeweils musizierte. Beides Freejazz-Saxophonisten, und doch verzichten Kristof und Wilcox bei ihrem Tribut auf exakt jenes Instrument und besinnen sich auf ihre Kernkompetenzen. Und auf Baudelaire.
Wer zum Einstieg in dieses für ungeübte Ohren vermutlich chaotische Werk etwas Struktur braucht, beginne mit Track drei, „Je suis autrefois“, in dem Wilcox sein Schlagzeug mit Besen und einem vergleichsweise eindeutigen Rhythmus spielt und Kristof dazu frei das Piano bedient; hier fühlt man sich noch am ehesten an dunklen, nachmitternächtlichen Jazz in den Sechzigern in New York oder so erinnert, ein Raum voller Rauch und in sich versunkenen Gästen, denen der Barkeeper stets näher ist als der Sitznachbar. Im Folgetrack „Le plaisir vaporeux fuira l’horizon“ schlägt Wilcox auch mal gerade Beats an, dazu gniedelt Kristof indes wild auf seiner E-Gitarre herum. Und schon ist man auch im Wortsinne mittendrin in diesem hyperaktiven Improvisationsspektakel.
Denn zumeist bearbeitet Wilcox sein Drumset introvertiert, er schlägt an, was an Instrumentenelementen in Reichweite ist, durcheinander, irrsinnig schnell, nur ohne Lautstärke, er generiert also keinen Lärm, das übernimmt Kristof dafür gelegentlich. Mit dem Piano eher nicht so, aber die E-Gitarre lässt er schon mal deutlich hervorpreschen, auch wenn er sie nicht wie im Metal verzerrt, und ein improvisiert gespieltes Cembalo kann sich auch ohne Lautstärke selbst Lärm genug sein. Überhaupt, ein Cembalo im Jazz, wenn das der Mozart wüsste! Aber das haben Joseph Horovitz und Helge Schneider ja auch schon mal so vollführt.
Wilcox nun beruft sich bei dieser Improaktion auf seine Arbeit mit dem Arthur Doyle Electro-Acoustic Ensemble und Arthur Doyle’s Free Jazz Soul Orchestra. Doyle hat nichts mit Sherlock Holes zu tun, sondern war ein Saxophonist aus den USA und verstarb 2014. Kristof zieht dessen ebenfalls in den USA beheimateten Kollegen Sonny Simmons heran, der vor zwei Jahren aus dem Leben schied und für den er gespielt hatte, und zwar kurz vor dessen Ableben mit dem Projekt Moksha Samnyasin auf dem Album „Nomadic“, und darauf die Sitar. Auf ihrer gemeinsamen Hommage verzichten die Akteure nun vollständig auf das Saxophon, beziehen sich stattdessen aber auf Charles Baudelaire und seine „Blumen des Bösen“. Der Titel des Albums ist dem abschließenden Gedicht „L’Horloge“ aus der Sektion „Spleen et idéal“ entnommen, das auch gleich den Titel des ersten Tracks stellt. Die folgenden Titel „Souviens toi“, „Je suis autrefois“, „Le plaisir vaporeux fuira l’horizon“, „Le temps es tun joueur avide“ und „Le gouffre a toujours soif“ sind ebenfalls Zeilen daraus. Die Zusammenhänge herzustellen bleibt nun Sache der Protagonisten, doch auch ohne das zu durchblicken öffnet sich mit diesem Album ein berauschendes Stück Improjazzpoesie.