Von Matthias Bosenick (17.08.2023)
Wer auf „In Circle“ dem zur Band herangereiften Ein-Mann-Projekt Dor ein konkretes Genre zuweisen zu können meint, fliegt raus. Auf Francesco Fiorettis dritter Veröffentlichung als Dor klingt seine Heimat Italien zwar an, aber nicht über das hedonistisch-sonnige, sondern vielmehr über das komplex-klassische, versetzt mit dunkler Melancholie, gruftiger Folklore, sakralen Melodien, rituellen Gesängen, fettem Jazz und mittelalterlichem Drama. Fioretti und seinem Ensemble gelingt es, diese ganzen Ingredienzen überaus stimmig zusammenzuführen und daraus eine einzigartige Musik zu generieren. Ohne gute Laune, und auch das ist genau richtig.
Die Dunkelheit bestimmt „In Cirlce“, egal, was da für Musik erklingt, wohin die komplexen Kompositionen mäandern. Mit der akustischen Gitarre definiert das Ensemble die Stücke, nah an der Klassik eingesetzt, Renaissance oder Barock, wer sich da auskennt, erkennt die Strukturen wieder, wer nicht, fühlt sich immerhin beim Dreivierteltakt daran erinnert. Der dem Pianisten Vladimir gewidmete Opener „Horowitz“ legt dabei musikalisch eine falsche Fährte, weil der in Richtung Indierock zu deuten scheint, aber das ist für den Verlauf des Albums eher ein Trugschluss. Dunkler Chorgesang, nicht gregorianisch orientiert, beinahe wie bei einer Beschwörung, bei einem Trancetanz, hypnotisiert die Hörenden. Wenn dann plötzlich mittendrin tribalartige Drums und knappe, fette Blasinstrumente einsetzen, steigert die Band die Dynamik nur. An anderer Stelle meint man sich mit Flöten und Schellenkranz in die Folklore oder gar ins unplakative Mittelalter versetzt, sobald weitere Blasinstrumente hinzukommen, sogar in eine Kirche. Trotz dezidiert eingesetzter Elemente wie angeschrägter Saiteninstrumente, abrupter Tröten oder behutsam scheppernder Percussion bleibt die Musik grundsätzlich in sich harmonisch, und trotzdem nicht plakativ oder gar fürs Popradio geeignet. Es steckt überdies etwas Spukiges in ihr.
Kein Wunder, diente das zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entstandene Buch „Die Handschrift aus Saragossa“ von Jan Graf Potocki als Grundlage für „In Cirlce“, und dieser kaleidoskopartige Episodenroman behandelt eben diverse metaphysische, übersinnliche Geschichten. Laut Info kombiniert Fioretti Elemente des Buches mit Aberglauben aus den Abruzzen zu Berichten davon, wie der Erzähler „von Visionen von Geistern, Hexen und Begegnungen mit dem Teufel geplagt“ wird. Kein Wunder, dass der Gesang auf dem Album so heimgesucht wirkt.
Nach einer selbstbetitelten EP 2019 und dem Debütalbum mit dem entlarvenden Titel „The Dream In Which I Die“ 2020, beide leider nicht online zu finden, sammelt Fioretti für „In Circle“ erstmals eine Band um sich. Seine Mitstreiter sind allesamt auch anderweitig im Einsatz: Paolo Raineri (Ottone Pesante) an der Trompete, Bruno Germano (Arto) am Wurlitzer, Sergio Pomante am Saxofon, Mario Di Battista (Ulan Bator, La Mala Sementa) an Gesang und Bass, Alessandro Vagnoni (Bologna Violenta, Drovag) an Gesang, Gitarre und Synthesizern und Gabriele Uccello (Affluente) am Schlagzeug. Aufnahmeleiter war Sergio Pomante (The Break Beast, Ulan Bator, Sudoku Killer). Fioretti nähert sich laut Info auch dem Klezmer, dem Post Rock und dem US-Anti-Folk an, was alles durchaus möglich sein kann; wer es nicht exakt so heraushört, findet zumindest Artverwandtes im Sound von „In Circle“. Es ist ein wundervolles Album, das man immer wieder hören mag, vielseitig, von schwankender Intensität und klarer Instrumentierung geprägt, ein Wunderwerk, das jede Aufmerksamkeit verdient.