Die Arschkrampen: Das Leben ist eine Deponie – Live im Schützenhaus Wesendorf am 25. April 2016

Von Matthias Bosenick, Interviewfoto von Boris Neubrandt (26.04.2016) / Auch veröffentlicht auf Kult-Tour Der Stadtblog

Da muss ich erst fast 44 Jahre alt werden und erlebe zum ersten Mal in meinem Heimatdorf, in dem ich 26 Jahre lang gewohnt habe, eine Kulturveranstaltung. Und dann noch so eine gigantische: Die Arschkrampen vom Radio-ffn-Frühstyxradio feiern fröhliches Comeback und treten zum Auftakt der gesamten Tour im Schützenhaus, ähm: Kulturzentrum in Wesendorf auf. Deutschlands wohl wichtigster Medienkritiker Oliver Kalkofe und Deutschlands wohl effektivster Beklopptendetektor Dietmar Wischmeyer reaktivieren ihre alten Figuren Kurt und Gürgen. Und wie: Nach drei Stunden Programm kollabiert bei allen 800 Gästen das Zwerchfell. Und zum Schluss sind die Künstler noch fannah zu Fotos und Gesprächen bereit. Ein Traum.

Kalkofe und Wischmeyer in Wesendorf. Mit den Arschkrampen. Ich gebe zu, dass ich mit denen nur so halbviel anfangen konnte, als sie noch allgegenwärtig waren. Sie waren mir einfach zu vulgär. Mit dieser Ablehnungshaltung entging mir das, was hinter den Kraftausdrücken und politischen Inkorrektheiten steckte: ein eher linkes, kritisches Weltbild, das viele gesellschaftliche, politische und soziale Schwachpunkte der Gegenwart aufdeckte und sie mit harten Worten benannte. Es macht eben einen großen Unterschied, ob ein dummer Mensch vor sich hinprollt oder zwei intelligente jenes Wesen übernehmen und ihre eigenen Inhalte damit transportieren. Einfach nur pöbeln kann jeder, aber so wie Wischmeyer als Kurt und Kalkofe als Gürgen, die ihre Rüpeleien mit bester Bildung unterfüttern, eben nicht.

Einen schönen Aufbau überlegten sich die beiden Unterhalter für den Abend: Zunächst setzen sie sich als sie selbst an das Pult auf der Bühne und plaudern aus der Zeit, als sie die Arschkrampen ersannen. Sie geben Details aus dem Universum der beiden Figuren preis und belegen diese mit kleinen Szenen, für die sie als Verkleidung nicht mehr als Kopfbedeckung und Brille aufsetzen, aber sofort in die vertrauten Rollen schlüpfen. Der zweite Teil besteht dann ausschließlich aus einer ellenlangen assoziativen Kurt-und-Gürgen-Szene in der Kneipe „Bei Gertrud“. So groovt man also als Zuhörer mit Kalkofe und Wischmeyer erst sanft in die Thematik ein und fällt dann nach satten drei Stunden schnappatmend vom Stuhl.

Vordergründig geht es bei Kurt und Gürgen darum, ungebildeten Menschen bei Kneipengesprächen zuzuhören. Kurt ist der lautstarke Prolet, der Absurditäten postuliert, oftmals politisch fragwürdig, besonders mit Blick auf Frauen, der von seinen Sauferlebnissen schwadroniert, über seine Kumpels lobend lästert und sich selbst als dollen Hecht darstellt, insbesondere mit geringschätzigem Blick auf seinen piepsigen Begleiter Gürgen. Der stellt das ethische Korrektiv dar, das mit Allgemeinwissen und Sachlichkeit Kurts Tiraden abschwächen will, ihm aber meistens doch um des lieben Friedens willen beipflichtet. Hintergründig behandeln die beiden weltbewegende Themen und entlarven einerseits die dumpfbackige unreflektierte Haltung des Durchschnittsdeutschen und stellen ihm andererseits analytische Betrachtungen gegenüber, sämtliches garniert mit einem vulgären Vokabular kombiniert mit Germanistendeutsch.

Historisch erhellend ist der Anfang der Show. Wischmeyer berichtet, wie er in Bielefeld die Elemente dessen aus Beobachtungen zusammentrug, was später zu den Arschkrampen werden sollte („Brettermeier“ etwa, Kurts Phantom-Antagonist, so Wischmeyer, sei ein Synonyn für den „Lattenjupp“, also das Kruzifix). Kalkofe steuert Betrachtungen zur Medienlandschaft bei; seinerzeit ließ Radio ffn nicht nur aus heutiger Sicht Unfassbares zu, meistens mit dem Argument, es versende sich ohnehin; „damals gab es noch keine Mediathek“, bemerkt Kalkofe trocken, „aus der etwas gelöscht werden musste“, und löst damit einen riesigen Jubelsturm aus. Der Hieb auf die Staatsaffäre Böhmermann sitzt und erreicht alle. Was auch für das Publikum spricht.

Allmählich drehen Wischmeyer und Kalkofe auf. Bis zur Pause leuchten sie anderthalb Stunden lang das Universum ihrer Figuren aus, um es danach 75 Minuten lang voll auszuspielen. Im Schweinsgalopp hechten sie von Thema zu Thema, in einem assoziativen Wahnsinn, dem man kaum folgen kann und der nach Kurts Ausführungen, die er Gürgens Kritik entgegenbringt, bisweilen sogar einigermaßen schlüssig ist. Gürgens Seitenhiebe diffamieren den Säufer zwar, doch stehen sich die Figuren selbstverständlich in Sachen Intellekt in nichts nach – kein Wunder bei den Darstellern. Da freut man sich als Zuhörer schon, wenn ihnen mal ein Schnitzer unterläuft wie „die frühen Neunziger des vergangenen Jahrtausends“. Die guten Zitate schleudern sie einem mit einer Frequenz um die Ohren, dass man sich die Mühe sparen kann, zu versuchen, sich auch nur einige wenige zu merken. Geht nicht. Irgendwas von der „Zentrifugierung der Innenstädte“ bleibt vielleicht hängen, der Rest ist gerade noch so als fäkales Gold in Erinnerung bleibend. Irgendwann kann man vor lauter Lachen ohnehin nicht mehr richtig zuhören. Geschweige denn Witze behalten.

Veranstalter waren die Jungs von Hoax, die die Arschkrampen vor 22 Jahren schon einmal nach Wesendorf geholt hatten. Damals, so erzählten sie mir, kamen sogar 1400 Gäste ins Schützenhaus, heute nur noch 800: weil 1994 die Stühle schmaler und die Sicherheitsauflagen weniger streng waren. Voll war der Saal trotzdem, und zufrieden die Gäste. Wischmeyer und Kalkofe hatten am Merchandisestand alle Hände voll zu tun, mit Signieren, Fotografieren, Parlieren. Unter anderem auch mit mir, zumindest Kalkofe, während Wischmeyer seinen Pflichten als guter Künstler nachkam.

mbb: Tourauftakt in Wesendorf – warum in diesem Nest?

Kalkofe: Wir waren sonst immer in Groß Oesingen, dieses mal haben wir uns gesagt: Wir machen Wesendorf. Wenn man die Stars von Welt fragt, wie Robbie Williams, die sagen alle, Wesendorf ist genau das Richtige für einen Tourauftakt.

mbb: Was macht das Auftreten auf Dörfern so besonders?

Kalkofe: Die Leute auf den Dörfern haben gerade mit den ganzen Sachen vom Frühstyxradio zu tun gehabt, ein großer Teil der Fans kommt ja aus kleinen Dörfern. Auf Tour haben wir meistens nur wenige Termine und sind dann nur in großen Städten, das fanden wir unfair. Deswegen haben wir gerade gesagt: Wir gehen in Dörfer. Das sind auch oft schöne Orte. Die Arschkrampen haben hier selber Spaß. Wir haben ja alle beide viel zu tun, Mattscheibe, Schlefaz, da haben wir gesagt, immer mal eine Woche am Stück schaffen wir, und da sind wir bewusst auch in kleinere Orte gegangen. [Anm.: Die Tour ist in mehrere mehrtägige Blöcke aufgeteilt]

mbb: Stellt Ihr einen Unterschied fest zwischen Land- und Stadtpublikum?

Kalkofe: Man merkt, dass sie in Dörfern sehr gut mitgehen. Sie hören gut zu, freuen sich und sind dankbar, dass hier was passiert. Auf den Dörfern sind die Leute meistens am aufmerksamsten.

mbb: Passt Ihr das Programm an, je nachdem, ob ihr im Dorf oder in der Stadt auftretet?

Kalkofe: Nein! Das Programm ist überall dasselbe. Wir passen es höchsten im Lauf der Tage an, wenn die Figuren sich entwickeln und wir einzelne Gags ausprobieren. Aber nicht für den Auftrittsort.

mbb: Von der Böhmermann-Medienkritik zu den Arschkrampen – wie passt das in einen Topf?

Kalkofe: Das ist das Schöne, seit ich damit angefangen habe, im Radio die unterschiedlichsten Figuren zu machen, da war es schon abwechslungsreich – und heute ist es noch abwechslungsreicher. Ich habe an allem den gleichen Spaß, ich finde die Arschkrampen so geil wie die Mattscheibe oder ernsthafte Kritik. Es ist schön, über die Zeit beides zu haben, und es ist toll, wenn das alles funktioniert. Deswegen macht mir alles nach all der Zeit noch Spaß, weil ich Abwechslung habe. Hätte ich nur eins davon, hätte ich wohl schon längst aufgehört. Aber so freue ich mich auf alles.

mbb: Mir gefällt an den Arschkrampen, dass hinter den Kraftausdrücken ernsthafte Inhalte stecken.

Kalkofe: Wir haben Spaß daran gehabt, Ausdrücke zu verwenden, die man da sonst nicht vermutet. Damit zeigen wir: Ein schlechtes Wort sagen muss nicht schlecht sein. Der Ziegenficker hat gezeigt, dass manches nicht so verstanden wird, wie es gemeint war. Wir stellen fest: Die Arschkrampen haben da noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

Die Nacht in Wesendorf wird für die Künstler wohl noch lang, zumindest sind sie um Mitternacht noch sehr beansprucht. Tja, da muss ich fast 44 Jahre alt werden, um erstmals in meinem Heimatdorf einer Kulturveranstaltung beizuwohnen. Meine Kopenhagener Freundin bemerkt dazu: „Fast 44 und du gehst die Arschkrampen hören. Da ist etwas los mit dein Bild von Kultur ;)“ Da hat sie Recht. Gottlob sollte dies nicht der letzte gute Witz des Abends sein. Danke, Hoax! Und danke Wischmeyer und Kalkofe.