Auf seiner Reise durch die obskuren Subkulturlabels Italiens ist das Moskauer Impromusik-Duo Der Finger nun bei Signora Ward Records angelangt. Dort erscheint mit „Lapidarium“ der Livemitschnitt einer Improvisation, die eine Tanzperformance begleitete, damals, 2019, vor Corona, in Jekaterinburg (Екатеринбу́рг). Das Bild fehlt leider zu diesem Soundtrack, dabei wäre es höchstspannend, sich vorzustellen, wie sich Tanzende zu diesen rhythmusbefreiten Drones mit Saxophon bewegen. Obwohl, eigentlich war es andersherum: Die Musik entstand inspiriert durch die Tänze. Evgenia Sivkova und Anton Efimov – mittlerweile durch Putins Krieg und daraus folgender Flucht räumlich voneinander getrennt – erzeugen mit reduziertem Instrumentarium Drones, freie Melodien und auch mal Lärm, nur nichts, wozu man selbst tanzen kann. Abenteuer Kunst.
Die Grundlage liest sich eigentlich wie klassischer Rock’n’Roll: Schlagzeug, Bass, Gitarre. Dazu gibt’s Saxophon und Effektgerätschaften als Hütchen obendrauf, ist ja auch nicht ungewöhnlich in der Rockmusik. Doch „Lapidarium“ ist alles andere als Rockmusik: Rhythmen gibt es in dieser musikalischen Stunde keine, Melodien lediglich gefühlt und über das frei schwebende Saxophon angedeutet und alle anderen Instrumente generieren lieber Drones, Noises, Sounds, Ambientpassagen als sagen wir mal Popmusik. Atmosphären stehen im Zentrum, beruhigende bis verstörende Soundscapes, in deren White Noise das Saxophon befremdende Figuren zeichnet, wie ein Nachhall von etwas Figürlichem, das wie eine Chimäre im nebelverhangenen Keller schwebt, wie ein exotisches Gespenst unter konturlosen anderen Gespenstern, wie eine nicht greifbare Erinnerung an so etwas wie Musik.
Nun kann man das „Lapidarium“, wie überhaupt die Musik von Der Finger, kaum bis gar nicht in Genreschubladen stecken. Auch das an The Young Gods erinnernde Covermotiv mit den in Stein geritzten Schriftzeichen führt in die Irre, überdies. Das Duo selbst versucht es mit Jazz sowie diversen Präfixen wie Avant, Dark, Free, Doom, Noise oder Noir, das kann man machen. Erstaunlich ist bei dem, was Der Finger da fabrizieren, dass sie nicht nerven, auch wenn die Voraussetzungen dafür durchaus in der Musik veranlagt wären. Sivkova und Efimov bleiben auch im Lärm behutsam.
Über das Tanztrio „Truppa anatomicheskogo“ (Труппа Анатомического) um Vladimir Balin, Anastasia Radchenko und Alexander Shmelev indes ist nicht so viel herauszufinden, wenn man Kyrillisch nicht beherrscht. Laut Info von Der Finger ist diese Truppe in Jekaterinburg angesiedelt, mit etwas Übersetzungshilfe findet man noch heraus, dass das Ensemble offenbar wechselt und häufig in Theatern anzutreffen ist. Man hätte gern die Bilder zu diesem Album gesehen, so muss man sie eben im Kopf entstehen lassen. Und das funktioniert ganz gut.