Von Matthias Bosenick (04.05.2023)
Hymnen! Aus der Zeit des ersten Punk und des ersten Postpunk und des ersten New Wave im United Kingdom, dargeboten von den Protagonisten jener Zeit, also den Erfindern dieser Musik, angereichert mit jüngeren und ganz neuen Songs jener Männer, allesamt in akustischen Versionen und – anders als sonst bei Dead Men Walking – ohne Publikum, sondern coronabedingt im Studio. Verwirrenderweise ist dieses das zweite oder dritte Debütalbum dieser mit Fug und Recht als solche bezeichneten Supergroup. Beteiligt sind: Kirk Brandon (Spear Of Destiny, Theatre Of Hate), John „Segs“ Jennings und Dave Ruffer (The Ruts/Ruts DC) sowie John „Jake“ Burns (Stiff Little Fingers). Und verdammt, ist das wieder gut gelungen, dieses Schwelgen im Früher mit dem Blick von heute!
Seit über 20 Jahren gibt es diese Supergroup nun mit wechselnden Besetzungen, und seit über 40 Jahren machen die Musiker Musik. Da kommt einiges an Können zusammen, das längst über den originären Punk-DIY-Dilettantismus hinausgeht, und dieses Können kommt akustisch offenkundig noch am tragendsten zum Ausdruck. Zudem belegen diese Versionen, welches Potential in den uralten Originalsongs genau wie in den Stücken aus jüngerer Zeit schon steckte. Nicht selten eines zum bierseligen Mitgrölen, aber das ist fein so, kein Ding, und es geschieht zudem unaufgeregt, kontrastreicherweise. Unaufgeregte Sauflieder. Sind es ja nicht alle, viele Songs tragen schon ursprünglich eine erhebliche Ernsthaftigkeit in sich, die untermauern diese neuen Versionen nur. Und es ist sehr schön, die altvertrauten Hits gereift wiederzuhören, das jugendliche Ungestüm transferiert in eine adulte Gelassenheit. Und in das entspannte Wissen darum, dass man da seinerzeit etwas Grandioses in die Welt setzte.
Es ist schon erstaunlich, was unter den einst so flott dahingerotzten Punknummern so an schillernden Melodien lauert, bisweilen an Fragilität, einmal sogar an Opulenz, „Golden Boy“ ist mit Streichern angereichert. Groove nicht selten, Harmonien nicht minder, die generieren die Vier gern dadurch, dass sie im Hintergrund selbst als Chor singen, was eben an mancher Stelle zu dieser Bierseligkeit beiträgt, an anderer das Balladeske („Wasted Life“, mag man kaum glauben) hervorhebt. Den Rest übernehmen Akustikgitarren, Akustikbass und Percussion, und alles zusammen klingt trotzdem fett, wo es das soll, und behutsam, wo dies angeraten ist. Und immer versiert, die fehlenden Verzerrer und Effektgeräte offenbaren, was in den Musikern steckt.
Die Songs dieses Albums rekrutieren die vier aus allen Bands und Projekten der Beteiligten, dazu kommen sogar vier Neukompositionen. Wer das Glück hat, irgendwo in diesem Internet schon an frühere Tonträger gelangt zu sein, weil die Band diese vorrangig auf Konzerten verkauft, die sie überdies fast nur in Großbritannien gibt, hat einige der Songs auf dieser grünen LP bereits in entschlackter Version im Regal stehen, aber eben nicht als Studioaufnahme und zudem vermutlich von einer anderen Besetzung dargeboten. Die ändert sich nämlich nicht selten: Bis auf Kirk Brandon ist niemand seit Anbeginn dabei. Um es kurios zu machen: Einmal, um 2015, war selbst Brandon nicht an Bord, und der Rest veröffentlichte genau dann mit „Easy Piracy“ ein Studioalbum als Dean Men Walking, angeführt von Mike Peters von The Alarm, dem anderen Gründungsmitglied, der danach aus der Bahn scherte und seine Variante von Dead Men Walking mit Slim Jim Phantom von den Stray Cats, Captain Sensible von The Damned und Chris Cheney von The Living End als The Jack Tars fortführte – alles altgediente Mitstreiter früherer DMW-Inkarnationen. Das alles sind ja schon staunenswert namhafte Musiker, aber es waren auch schon andere Größen beteiligt, wie Billy Duffy von The Cult, Glen Matlock von den Sex Pistols, Bruce Watson von Big Country, Craig Adams von den Sisters Of Mercy und The Mission sowie auf den Bühnen Gaststars und Stargäste, für die andere Leute vor Ehrfurcht im Boden versinken würden.
Spricht die Band heute von „Freedom“ als Debüt-LP, so straft ihnen nicht nur „Easy Piracy“ Lügen, schließlich liegt mit „Graveyard Smashes Volume 1“ aus dem Jahr 2005 bereits ein Studioalbum vor. Aber das ist genau so schwer erhältlich wie die unzähligen Live-CDrs. Auf Vinyl indes trifft dies wohl zu, da ist dies eine Premiere, also sei dies gültig. Das Album erschien jedoch bereits 2021 digital (im Stream übrigens ausschließlich auf deren Webseite) und als CDr, als LP erst im Folgejahr, aber mit Lieferproblemen, deshalb traf es erst verspätet überhaupt ein. Zudem sind solche statistischen Banalitäten angesichts der Klasse dieser Songs zu vernachlässigen; so darf es gern weitergehen mit diesen alten Herren, oder, um es mitzugrölen: „Never surrender! Never surrender!“
Die Tracklist:
01 Dorothy (neu)
02 Kill The Pain (Ruts DC, „Music Must Destroy“, 2016)
03 Guilty As Sin (Stiff Little Fingers, „No Going Back“, 2014)
04 Man Down (neu)
05 Blame (neu)
06 The Price (Spear Of Destiny, „The Price You Pay“, 1988)
07 My Dark Places (Stiff Little Fingers, „No Going Back“, 2014)
08 Golden Boy (Ruts DC, „Music Must Destroy“, 2016)
09 Slave (Theatre Of Hate, „Kinshi“, 2016)
10 Bitter Sweet (neu)
11 Staring At The Rudeboys ([The] Ruts, 7“ bzw. „Grin And Bear It“, 1980)
12 Never Take Me Alive (Spear Of Destiny, „Outland“, 1987)
13 Wasted Life (Stiff Little Fingers, „Inflammable Material“, 1979)