Von Matthias Bosenick (16.08.2023)
Man fühlt sich sofort in die sich bei den Achtzigern bedienenden Neunziger zurückversetzt, als es noch möglich war, mit Lärm, Aggressionen und ungewöhnlichen Songstrukturen für positive Aufmerksamkeit und eine nicht geringe Gefolgschaft zu sorgen: Die Dead Mammals aus dem Vereinigten Königreich beherrschen auch auf ihrem Album „II“ (könnte das zweite sein, hm?) das Laut-Leise-Schema, kombinieren monotone Rhythmen mit zerschredderten Gitarren und brüllen dazu herum. Und das als Duo!
Natürlich kann man den Dead Mammals vorwerfen, keinen originär eigenen Sound zu kreieren, weil sie sich dafür viel zu sehr bei Vorbildern bedienen. Allerdings bei Vorbildern, die so nischig sind, dass ein Vertreter mehr und das noch aus den Zwanzigern des 21. Jahrhunderts, also gut 30 bis 40 Jahre später, der Szene mehr Würze verleiht. Zudem ist die Kombination hier auch recht anhörlich gelungen, und als zusätzliches Kuriosum klingt „II“ eher nach den USA als nach dem UK. Der Gesang hat etwas vom frühen Hardcore aus Washington D.C., da klingen die Rites Of Spring und selbstredend deren Nachfolger Fugazi an, gelegentlich sogar deren gemeinsames Projekt mit Ministry, Pailhead. Den monotonen Sound, der sich nicht um Melodien schert, sondern das Gewicht auf Aggression, Power und Lärm legt, kennt man aus dem Noiserock, und natürlich auch aus dem No Wave, der in den Achtzigern von New York aus losbrach. Die Laut-Leise-Dynamik etablierten die Pixies zunächst im Indierock und via Nirvana im Grunge. Wenn das Brüllen am Schluss kurzzeitig ins expressive Reden übergeht, meint man Henry Rollins oder Jello Biafra zuzuhören. Die Dead Mammals selbst geben noch unter anderem Big Black und The Jesus Lizards als Einflüsse an.
Jetzt geht es also darum, wie die Dead Mammals diese Gemengelage zusammenrühren. Dabei befeuert das Duo offenkundig Wut, die die beiden Musiker, Chris Garth und Peter Basden, nicht einfach darin ausleben, irgendwelche Songs hinzurotzen. Insbesondere das Laut-Leise-Ding innerhalb vieler Songs definiert schon mal eine überraschende Dynamik, dann sind die Stücke trotz ihres insgesamt hohen Aggressionslevels unterschiedlich genug, um auch dem ganzen Album im Verlauf eine Dynamik zu verleihen, eine Dramaturgie mithin. Zwar ist das Tempo insgesamt eher schleppend und erzeugt eine wuchtige Schwere, doch preschen die beiden auch mal los, da lassen sie den Punk von der Leine, oder bremsen sich noch mehr aus, um etwa einem Lärmbrocken ein irreführend chilliges Intro zu verabreichen. Dabei bleiben die beiden auch noch groovy, der Bass kann mehr als nur achteln, selbst auf den hochenergetischen Powerstrecken, und auch die Gitarren können Melodien, selbst wenn sie auf lange Distanz den Lärm bevorzugen. Und dazu ein Gebrüll, das unterstreicht, dass man in Rochester in der Grafschaft Kent keinen Anlass für gute Laune hat.
Die abwechslungsreiche Kombi aus allen Einflüssen macht die Dead Mammals, also die Toten Säugetiere, zu etwas Besonderem. Das Duo musiziert erst seit 2020 zusammen, seinerzeit als Corona-Lockdown-Projekt zu Hause gestartet, denn jeder von beiden ist jeweils für sich auch anderweitig unterwegs. Bei Chris Garth handelt es sich um den Multiinstrumentalisten, der Gitarre, Bass, Schlagzeug und Geschrei einbringt, Peter Basden ist Hauptschreier und Gitarrist. Garth hat unzählige Live- und Studio-Einsätze in seiner Vita und spielt zudem bei der Sludge-Prog-Instrumental-Band Upcdownc und der Drone-Ambient-Band In Arcadia; Peter Basden scheint eigentlich Fotograf zu sein. Der Titeltrack der Ende 2022 erschienenen EP „Chew The Fat“ ist auf „II“ enthalten, das selbstbetitelte Debüt erschien nach einigen Singles 2021. Der Sound der beiden passt perfekt zu dem des süddeutschen Noise-Rock-Trios Trigger Cut, mit dem es vor vier Monaten im UK aufgetreten wäre – hätten nicht absurde Post-Brexit-Bestimmungen für den Abbruch der Reise noch kurz vor dem Ärmelkanal gesorgt.